„Wir waren naiv“

Warum in Schwedens Schulen Leistung und Gerechtigkeit nicht mehr zusammen finden

Es begann in Schweden in den 90er Jahren mit der Kommunalisierung der Schule ohne Zielsteuerung. „Die Rathäuser hatten weder Mittel noch Erfahrung“, analysiert der schwedische Bildungshistoriker Hans Albin Larsson. „Es gab keine konkreten Qualitätsstandards mehr“. In den 2000ern folgte die Kommerzialisierung. Die Schlagwörter hießen freie Schulwahl, Bildungsschecks, private Profitanbieter für mehr Wettbewerb. Schul-Aktiengesellschaften drängten in die Bezirke mit Renditen von vier bis sechs Prozent, manche streiften 15% Gewinn ein. Gleichzeitig wird das Angebot geographisch und sozial immer unausgewogener. Die Einkommenstärkeren  sammeln sich in den privaten Schulen, die Ärmeren bleiben zurück. Der öffentlich ausgetragene Wettkampf der Schulstandorte treibt die soziale Segregation weiter an. Es entstehen aber auch Leistungsprobleme in den Privatschulen: „Wichtig ist nicht, den Schülern eine gründliche Bildung zu vermitteln, sondern sie als Kunden zufriedenzustellen“, beschreibt Bildungshistoriker Larsson die Dynamik. Daraus resultierten eine Inflation guter Noten und steigender Druck auf die Lehrerinnen und Lehrer, möglichst niemanden durchfallen zu lassen.
Die Mehrheit der Schweden hält die Privatisierung des Schulsystems inzwischen für einen Fehler. Zwei von drei freien Trägern sind Risikokapitalgesellschaften. Als eine solche vor einem Jahr Insolvenz anmeldete, mussten 10 000 Schülerinnen und Schüler mitten im Schuljahr eine neue Schule suchen. „Wir waren naiv“, gesteht mir Per ein, den ich vorige Woche in Stockholm auf einer großen Konferenz sozialer Dienstleister treffe. Er hatte, so erzählt er, große Erwartungen. „Aber die Folgen sind desaströs“. Im aktuellen Leistungsvergleich der OECD haben sich Schwedens Schüler am deutlichsten verschlechtert. Sie liegen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften unter dem OECD-Durchschnitt. Der Abstand zwischen leistungsstarken und -schwächeren Schülern ist größer geworden, die soziale Herkunft macht sich in den Leistungen deutlicher als in der Vergangenheit bemerkbar.
Auf der Konferenz erzählen Krankenschwestern von ähnlichen Entwicklungen in der Pflege. Vor allem die Skandale um Pflegedienstleister wie „Carema“ schmerzen. Öffentliche Gelder, die zu Gewinnen umgemodelt werden und anschließend in Steuerparadiese abfließen; interne Kredite, die sich der Versteuerung entziehen; drastische Kürzungen an Personal, die zu Lasten der Bedürftigen gehen. Es gebe eine große Unruhe wegen der mangelnden Leistbarkeit von Pflege bei gleichzeitigen privaten Gewinnen im Sozialsektor.

Von diesen Erfahrungen kann man lernen. Es gibt unterschiedliche Sozialstaatsmodelle in Europa. Alle haben ihren Stärken und ihre Schwächen. Das Sozialstaatsmodell Österreichs und Deutschlands wird in der Wissenschaft „Bismarckscher“ Sozialstaat genannt; nach dem deutschen Reichskanzler, der als Antwort auf die sozialen Kämpfe im 19.Jahrhundert das Sozialversicherungssystem einführte. Bismarck wollte die Arbeiter befrieden, aber gleichzeitig die sozialen Rangordnungen beibehalten. Das Modell weist bis heute strukturelle Probleme auf, die einer Reform harren: sozial undurchlässige Schule, wenig universelle Leistungen, unterentwickelte soziale Dienste, große Frauen-Männer-Schere, eine Verwaltungspraxis, die nicht den Bürger, sondern den Untertanen sieht. Schulpolitisch atmet da noch vieles den obrigkeitsstaatlichen Wohlfahrtsstaat, „Vater Staat“, der seinen minderjährigen Kindern milde Gaben zuteilt.

In Sachen Schule ist es wohl noch immer besser auf Finnland zu schauen, oder auch auf Kanada. Leistung und Gerechtigkeit gehören da zusammen. Schulsysteme können ihre Besten für Spitzenleistungen qualifizieren, gleichzeitig aber dafür sorgen, dass der Abstand der schwächsten Schüler zu den besten gering. Die Schule in Kanada weist die geringsten Leistungsunterschiede bei ihren fünfzehnjährigen Schülern aus. Der Abbau der Leistungsdifferenzen geht nicht zu Lasten der Leistungsstarken, sondern wird ausschließlich durch bessere Leistungen der schwachen Schüler bewirkt.
Hierzulande wird man bei Reformen besonderes Augenmerk auf die Unterrichtsqualität, die Lehrerausbildung, die Schulraumarchitektur und die zu frühe Bildungsentscheidung mit 10 Jahren legen müssen. Das zahlt sich aus für die Kinder – aber auch für uns alle. Nach Schätzungen der Bildungswissenschafter Hanushek und Wößmann würde sich das jährliche Wachstum des Bruttosozialprodukts in Österreich um einen halben Prozentpunkt erhöhen, könnte der Anteil der Schulabgänger mit geringen Lesekompetenzen auf Null reduziert werden.

Erschienen in: Magazin „Format“ Oktober 2014

Why performance and justice no longer go together in Sweden’s schools. (English Version)

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1 Antwort zu „Wir waren naiv“

  1. paul sagt:

    sehr spannend. stimme voll zu. überraschend finde ich kanada.

    denke aber auch dass nicht nur lehrerausbildung u bildungswegentscheidung stolpersteine für eine reformierung des (österreichischen) bildungswesens sind. man müsste – auch außerhalb der schule – über die funktion von schule und bildung diskutieren. das argument „wettbewerbsvorteil“, so der tenor, ist der falsche ansatz, um lernende für schule zu begeistern. v.a. weil wir ja schon lange wissen, dass chancengleichheit im schulischen wettbewerb ein mythos ist…

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