Jeder fünfte Patient sucht den Hausarzt nicht in erster Linie wegen eines medizinischen, sondern wegen eines sozialen Problems auf. Da geht es um Einsamkeit, finanzielle Not oder Arbeitslosigkeit.
Die junge Frau atmet schwer, kann kaum schlafen und durchlebt Phasen tiefer Todtraurigkeit. Sie wird medizinisch untersucht und gut versorgt. Das Schreckliche, das sie erleiden musste, hat sich in ihren Körper eingeschrieben. Ein Kollege, der das Anamnese-Gespräch mit der traumatisierten Patientin führt, erfährt, wie gerne sie Lieder singt, wie wichtig Musik für sie ist. So hat er die Idee, die Frau zu fragen, ob sie nicht in einem Chor singen wolle? Ob er schauen solle, wo es in ihrer Nähe Singgruppen gäbe? Die Patientin ist sich nicht ganz sicher, wagt sich aber dann doch zur ersten Chorprobe. Das Singen tut ihr gut. Da geht es ums richtige Atmen, ums Luft holen und zum Klingen bringen. „Ich fühle wieder Freude, das gemeinsame Singen ist so befreiend“, erzählt sie.
Aus der Forschung zu den sozialen Determinanten der Gesundheit – also der Frage, was gesund hält – wissen wir heute, dass psychosoziale Maßnahmen die Lebensqualität um bis zu 70 % verbessern können – und auch einen bedeutenden Anteil an der Genesung haben. Ärzte könnten ein „soziales Rezept“ ausstellen. Damit verschaffen sie Patienten Zugang zu einer Reihe von sozialstaatlichen wie sozialen Dienstleistungen oder auch selbstorganisierten Angeboten im Grätzel. Das Singen im Chor wäre eine solche soziale Verschreibung. Sie könnten als Patient aber auch ein Rezept für einen Theaterbesuch oder eine geführte Wanderung erhalten. Vielleicht ist aber das beste Medikament gerade für Sie ein Tagebuch, in dem Sie Ihre Gefühle und Geschichten niederschreiben. Das „soziale Rezept“ zielt darauf ab, die persönlichen Interessen oder Leidenschaften einer Person anzusprechen. Jeder fünfte Patient sucht den Hausarzt nicht in erster Linie wegen eines medizinischen, sondern wegen eines sozialen Problems auf. Da geht es um Einsamkeit, finanzielle Not oder Arbeitslosigkeit. Die soziale Verschreibung müsste sich hier um die Beantragung von Sozialleistungen oder die Verbesserung der Wohnsituation kümmern. Wesentlich dabei ist der Aufbau von regionalen Kooperationen, etwa mit Angeboten der Gesundheitsförderung, Wohnungslosenhilfe und Schuldnerberatung. In Großbritannien, woher die Idee des „social prescribing“ kommt, wird ein „Linkworker“ eingesetzt, der die Vermittlungsarbeit leistet. Verlinken heißt Verbinden. Der Arzt überweist zum Linkworker, der dann mit dem Patienten die konkrete soziale Verschreibung entwickelt und organisiert.
Das österreichische Sozialstaatsmodell trennt traditionell in „Cure“ und „Care“, ins Medizinische und ins Soziale. Diese Spaltung führt zueinander in Finanzierung und Organisation gegenüberstehenden Systemen. Das kontinentale Sozialstaatsmodell Österreichs hat eine stark berufsständische Schlagseite: zum Schaden der Entwicklung moderner Berufsbilder und integrierter Angebote. Pflegekräfte machen in anderen Ländern Pflegeeinstufung, Berufe zwischen Sozialarbeit und Gesundheitsversorgung sind anderswo leichter möglich, Grätzelarbeit wird selbstverständlicher mit Public Health verknüpft. Da gilt es eine offene Wunde im System zu schließen. Wir brauchen nicht nur ein ver-sorgendes, sondern auch ein mit-sorgendes Netz.
Dazu kann die soziale Verschreibung beitragen. Erste Ergebnisse aus Pilotversuchen in Österreich zeigen: Soziale Rezepte reduzieren Angst und Überforderung, verringern Einsamkeit und Ohnmacht. Eine Patientin daraus sagt: „Das tut schon gut, wenn man mal jemanden hat, wo man sich austauschen kann, wenn man unter andere Leute kommt und nicht immer zuhause sitzt in den eigenen vier Wänden.“
Erschienen in: Die Presse, Soziale Rezepte reduzieren Angst, 24.04.2023
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