Hilf mir, es selbst zu tun

Die ersten Montessori Kindergärten lagen im Wiener Goethehof und im jüdischen Vereinshaus Fünfhaus. Sie waren von dem Gedanken geleitet, benachteiligten Kindern nicht „das Letzte“ sondern „das Beste“ an Pädagogik und auch an Innenarchitektur zuzugestehen.

 „Im Bretteldorf war es ein Glück, wenn du was zum Essen gehabt hast“, erzählt Hannelore Sigmund. An der Donau in Kaisermühlen erstreckte sich vor hundert Jahren eine Siedlung verarmter Kleinhäusler, Tagelöhner und prekärer Arbeiter. Aus dem Jahr 1925 wird berichtet, dass das Bretteldorf 250 Wohnhäuser, 100 Pferde, 200 Kühe und 2000 Schweine umfasste. „Die Häuser waren notdürftig zusammengenagelt und da haben natürlich die ärmsten Leute gewohnt“, erinnert sich Ferdinand Raschl. Nach dem Krieg stieg die Wohnungsnot an, Nahrungsmittelknappheit und Arbeitslosigkeit bestimmte das Leben in der Siedlung. Hochwasser haben das Areal immer wieder überflutet. „Wenn Hochwasser war und das zurückgegangen ist, sind vom Bretteldorf die alten Gitterbetteinsätze, die mit Federn, genommen und durchgestreift worden, und da haben wir viele Fische gehabt im Wasser“, erzählt Georg Kundera, der mit den Bettgittern Fische für das Abendessen gefangen hat. Hannelore, Ferdinand und Georg sind als Kinder im Goethehof aufgewachsen. Zwischen der Schüttaustrasse und dem Kaiserwasser entstand 1930 einer der größten Gemeindebauten Wiens. Viele fanden Arbeit beim Bau, viele zogen aus dem notdürftigen Bretteldorf erstmals in eine „richtige“ Wohnung. Im Innenhof befand sich ein heute beinahe vergessenes Schmuckstück: ein Kindergarten. Und zwar ein ganz besonderer. Er war von dem Gedanken geleitet, benachteiligten Kindern nicht „das Letzte“ sondern „das Beste“ an Pädagogik und auch Innenarchitektur zuzugestehen.
Das Architekturbüro Singer & Dicker, beides Bauhausschüler, sorgten sich um die Gestaltung des Innenraums. Franz Singer kümmerte sich um Raum und Möbel, Friedl Dicker um Farbegestaltung und Materialien. Für die altersübergreifenden Gruppen sollten die Möbel leicht verschiebbar und verstaubar sein, man musste sie zusammenklappen und stapeln können. Matten waren vorhanden zur räumlicher Abgrenzung beim Spielen und gleichzeitig zum Ausruhen. Mit unterschiedlichen Farben legten die beiden Architekten ein Farbsystem an, das am Boden, Mobiliar und an der Decke verlief. Waschbecken, Zahnbürsten und Becherhalter waren sorgfältig und platzsparend im Waschraum angebracht. Der Kindergarten erwies sich als ein Experiment aus mehreren Zutaten: Der Innenraum wurde im Bauhausstill gefertigt, die Materialien waren zweckmäßig und vielseitig verwendbar, bei der Fertigung der Innenausstattung wurden Sozialprojekte Jugendlicher einbezogen. Und: den Alltag der Kinder prägte ein reformpädagogischer Ansatz. Im Goethehof entstand einer der ersten Montessori-Kindergärten Wiens. Zu Gute kommen sollte er Kindern aus einkommensschwachen Haushalten. Auch Maria Montessoris Casa dei Bambini in Rom richtete sich zu Beginn an Arbeiterkinder im Armenviertel San Lorenzo. Sie betreute dort Kinder von der Straße, die in kürzester Zeit lesen, rechnen und schreiben lernten.

Kindergarten im Goethehof 1930, Foto Hedwig Schwarz, Colorierung Sophia Schenk-Mair

Für die Kinder des Bretteldorfs ist die Montessori Pädagogik eine kleine Revolution. Beherrschend in der Erziehung waren noch immer Drill, Strafen und Züchtigung. Das Kind galt als unreifes, unfertiges Wesen, dessen Wille nicht wirklich ernst zu nehmen war. Demütigung, Bestrafung und Gewalt waren die Standards – in der Familie wie im Kinderheim. Im Goethehof empfängt die Kinder nun Frau Hedwig Schwarz. Sie versteht sich als Pädagogin, die das Kind vom „ersten Tag seines Lebens an achtet“, als „Bindestrich“ zwischen dem Kind und der vorbereiteten Umgebung fungiert, als „Gehilfin“ für die „freie Entfaltung der kindlichen Aktivität“. Alles Zitate Maria Montessoris. Das Motto, unter dem der Kindergarten steht, ist abgeleitet von einem Mädchen, das zu Montessori gesagt haben soll: „Hilf mir es selbst zu tun“. Das ist nun etwas wirklich anderes, anders als so vieles, das die Kinder bisher erlebt haben. In den Regalen stehen Materialien, die alle Sinne der Kinder als „Erforscher der Welt“ ansprechen möchten: Geräuschdosen und Glocken, Farbtäfelchen, Geruchsdosen, Geschmackgläser, Tastbretter. Die Möbel, wie Tische und Sessel, sind klein und leicht, damit sie von den Kindern eigenständig verstellt werden können. In niedrigen, offenen Regalen stehen den Kindern die Entwicklungsmaterialien zur Verfügung.  „So wird die Schule aus einem Marterinstrument zu einer Stätte der Freude und hat den Vorteil, die Unkosten für die Ausrüstung der Klassen so gering zu gestalten“. Im Rückgriff auf den um 1600 lebenden reformatorischen Lehrer Johann Comenius formuliert Montessori ihren Einsatz von besonderen Materialien und ihre Pädagogik zum Angreifen: „Das Ganze geben, indem man das Detail als Mittel gibt“. In der Konzentration auf, das, was gerade ist, und im Fokus auf anschauliche und begreifbare Materialien kann Kindern die Welt aufgehen. Das sollte ein Schlüssel der ganzen Pädagogik werden: diese kostbaren Augenblicke der Konzentration zu erkennen und zu nützen. Es gehe darum, jedem Kind das zu geben, das bereitzustellen, wonach „seine Gegenwart jeweils verlangt“, so Montessori.

Ein anderer Blick auf das Kind lag damals in der Luft. Jean Piaget in der Schweiz beobachtete aufmerksam die kognitiven Entwicklungsschritte der Kinder, die psychoanalytische Pädagogik August Aichhorns praktizierte in Wien einen verstehenden Umgang mit dem Kind, die Sozialpsychologin Maria Jahoda revolutionierte die sozialwissenschaftliche Forschung mit ihrem Diktum „Unsichtbares sichtbar machen, nicht beweisen, sondern entdecken“. Wien sei die Hauptstadt des Kindes, hieß es rundum angesichts des neuen pädagogischen Engagements in der Donaumetropole. In Wien entwickelte sich auch ein intensiver Austausch der Montessori Kinderhäuser mit der Psychoanalyse. Anna Freud hielt von 1931 bis 1934 alle zwei Wochen ein eineinhalbstündiges Seminar ab, in dem die Pädagoginnen der Kinderhäuser sich über ihre Arbeit austauschen konnten. Regelmäßig trafen sie sich zur Supervision und zu Fallbesprechungen. Sigmund Freud versicherte in einem Brief an Maria Montessori, dass er sehr gerne bereit wäre, die Ausbildung von Pädagoginnen zu unterstützen. Er und Anna Freud hätten große Sympathie gegenüber ihren „menschenfreundlichen wie verständnisvollen Bestrebungen“.

Im Goethehof kommen und gehen die Kinder. Und zwar durch einen eigenen Eingang, einen gibt es für die Kinder, einen für die Eltern. In den altersübergreifenden Gruppen werden Matten, Tische, Sesseln aufgestellt, zusammengelegt und wieder im Raum gruppiert.  „Es war gedacht, einige Jahre lang zu beobachten, wie die einzelnen Raumteile sich im Gebrauch bewähren“ schreibt Architekt Franz Singer, „und wie die praktische und psychische Wirkung der Formen, der Farben, der Materialien auf die Kinder ist.“ Die Bauhausarchitekten haben ein Auge auf die innere und äußere Ordnung der Dinge und ihrer Wechselwirkungen auf die Kinder. Die vorbereitete Umgebung hilft beim Lernen. Der Raum wird später als „dritter Pädagoge“ – neben dem Lehrer und den Mitschülern-, bezeichnet werden. In Kaisermühlen gab`s das alles schon in den 3oer Jahren. Für die armen Kinder aus dem Bretteldorf.

Zur selben Zeit öffnete im Arbeiterbezirk Fünfhaus ein jüdischer Kindergarten, der sich ebenfalls an der Montessori-Pädagogik orientierte. „Den Vormittag verbrachten wir im Kindergarten mit Spielen: Rahmen mit Stoff, mit Schuhbandeln, Drückern, Knöpfen, Reißverschluss – mit praktischen Sachen und allen Arten – zu verbinden“, erinnert sich Alisa Waksenbaum an die Zeit in der Herklotzgasse. Im fünfzehnten Gemeindebezirk lebten Familien mit kleinen Einkommen, prekäre Jobber und Handwerker, die in den zahlreichen Fabriken rundum Arbeit fanden. Die Pädagogin Malka Verständig leitete den Kindergarten. „Malka war sehr lieb. Bei Schönwetter waren wir unten in der Sandkiste, sonst oben im Zimmer“ erzählt Ella Kaufmann. Der Montessori Kindergarten lag eingebunden in ein ehemaliges Schulgebäude, das im zweiten Stock Waisenkinder beherbergte, später auch Obdachlose. Den ersten Stock nützte die jüdische Gemeinde für Versammlungen, hier fanden auch Purim und Chanukka Feste statt, erinnern sich die damaligen Kinder Alisa und Ella. Im Erdgeschoss war eine Ausspeisung für arme Gemeindemitglieder untergebracht. Da wurde täglich frisches Essen zubereitet für alle, die am Hungertuch nagten und für alle, denen die Wirtschaftskrise den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Mittendrinnen der Kindergarten: „Es war außergewöhnlich“, sagt Ella. „Wir haben jeder eine Kiste bekommen, z.b haben wir gelernt: Zuschnüren, Knöpfen – alles, was man Kindern beibringen muss. Das war sehr interessant, eine wunderbare Sache, die Montessori Schule. Sachen wie Maschen machen, Bausteine und Kleinigkeiten, die zur Selbständigkeit erziehen. Das hat mich beeindruckt.“  An die Übungen des praktischen Lebens erinnert sich Ella besonders gern. Sie machen das Kind unabhängig und selbständig, ermöglichen ihm das alltägliche Leben in all seinen Bereichen zu beherrschen: Putzen, waschen, servieren, essen richten, sich an und ausziehen, Kleider in den Schrank hängen, Schuhbänder selbst binden.  Ella und Alisa können beim Einmarsch der Nazis fliehen, viele ihrer Familienmitglieder werden ermordet. Der Kindergarten in der Herklotzgasse überlebte die Schreckensherrschaft nicht.

Im Goethehof wird es bereits mit dem autoritären Ständestaat eng, die moderne Kindererziehung und ihre Pädagoginnen kommen unter Druck, mit der Machtübernahme Hitlers wird dann alles zerstört. Architekt Franz Singer muss emigrieren, Gundi Dicker wird in der Gaskammer Theresienstadts ums Leben gebracht. Nach dem Krieg entstehen auf dem ehemaligen Areal des Bretteldorfs die himmelhohen Gebäude der UNO City. Nebenan im Goethehof liegt ein verwaister Kindergarten. Viele der engagierten Pädagoginnen der ersten Jahre sind geflüchtet. Nach 1945 wird versucht an die Arbeit in der Zwischenkriegszeit anzuschließen, jedoch vorerst ohne Erfolg. Tief sitzt die pädagogische und humane Verwahrlosung, verschüttet ist das Vertrauen in die Lebendigkeit des Kindes. Es ist vielerorts die Fortführung der autoritären, gewalttätigen Erziehung, es ist die Wiederkehr des sozialmoralischen Schuldspruches in der Pädagogik.

Als im Goethehof in den 1930er Jahren der Montessori-Kindergarten seine Pforten öffnete, kamen Kinder aus Familien, die vorher in Bretterverschlägen leben mussten, kamen Kinder, deren Eltern kaum Geld zum Überleben hatten, kamen Kinder, denen keine gute Zukunft zugetraut wurde. Für sie gab es nicht das Letzte, sondern das Beste, was Pädagogik und Architektur zur Verfügung hatte.

Erschienen in: Spectrum, Die Presse, 06.11.2020

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3 Antworten zu Hilf mir, es selbst zu tun

  1. Anath Eichenwald sagt:

    Malka Verständig war die Tante meines Vaters.
    Sie ist in Jugoslawien ums Leben gekommen, so dass ich sie leider nicht kennenlernen konnte.
    Schön zu erfahren, dass sie damals eine moderne Pädagogin war.
    Freundliche Grüsse
    Anath Eichenwald

    • Danke für die Infos über Ihre Tante Malka. Musste sie nach Jugoslawien fliehen?

      • Anath Eichenwald sagt:

        Ich sehe ihren Kommentar erst jetzt und danke für ihre Nachfrage.
        Ja, als Jüdin musste sie fliehen. Leider kenne ich keine weiteren Details, nur das sie und ihr jüngerer Bruder dort ums Leben kamen. Ich besitze einige Fotos der beiden.
        Ich hatte noch das Glück einmal mit einer älteren Dame zu telefonieren, die bei meiner Grosstante im Kindergarten war. So ist ein kleines Stück meiner Familiengeschichte wieder aufgetaucht.

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