Vom Normsturz im sozialen Netz

Der Normsturz dient dazu, die die Festigkeit eines Kletterseils zu prüfen. Fünf Abstürze muss es mindestens aushalten, sonst taugt das Seil nicht zum Schutz.

Die eingeführte Sozialhilfe würde einen solchen Normsturz nicht bestehen. Denn sie kann die größer werdenden sozialen Probleme offenkundig nicht lösen.

Herr I. ist 55 Jahre alt. Er hat im Gastgewerbe gearbeitet. Als er psychisch erkrankt und nicht mehr arbeitsfähig ist, reichen die Versicherungszeiten für die Invaliditätspension nicht aus. Zum Überleben muss Herr I. Sozialhilfe beantragen. Er lebt in einer teilbetreuten Wohneinrichtung und arbeitet für einige Stunden im Wasch & Bügelservice. Dafür erhält er einen kleinen Zuverdienst. Der bei der Abschaffung der Mindestsicherung angekündigte „Behindertenbonus“ wird nun mit den Betreuungsleistungen gegenverrechnet, heißt, er wird einkassiert. Selbst Herrn I`s kleiner Zuverdienst aus dem Waschservice wird zur Gänze von der Sozialhilfe abgezogen. Übrig bleibt da nicht mehr viel. Rechnet man noch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung ab, muss Herr I. mit weniger als 90 Euro auskommen. Damit soll er Bekleidung, Hygieneartikel, unerwartete Ausgaben und persönliche Bedürfnisse bestreiten. Herr I. hat eine minderjährige Tochter, die er gern monatlich besucht. Die Fahrtkosten gehen sich jetzt nicht mehr aus. Jetzt, seit die Mindestsicherung abgeschafft wurde und die neue Sozialhilfe in Kraft ist: in Niederösterreich, Oberösterreich und Salzburg, bald auch in der Steiermark, Kärnten und im ganzen Land. Diese „Sozialhilfe“ ist ein Rückschritt in der Armutsbekämpfung. Und: Es wird eine so uneinheitliche und zerstückelte Sozialhilfe geben wie noch nie, also das genaue Gegenteil von „bundeseinheitlich“.

Es gibt Geschichten, die unsichtbar blieben, würden wir sie nicht erzählen und uns erzählen lassen.  Die Geschichten von Herrn I und tausend anderer würden sonst verschwiegen, vergessen, unbedeutend verschwinden. Von der Verschlechterung durch die „Sozialhilfe“ sind Menschen in teilbetreuten Wohngemeinschaften, im Übergangswohnen sowie in psychosozialen Wohnheimen betroffen. In Anspruch genommen werden diese Einrichtungen von Männern und Frauen, die eine schwierige persönliche Situation hinter sich haben, oftmals mit Obdachlosigkeit oder Gewalt konfrontiert waren.
Menschen mit Behinderungen können gezwungen werden, ihre Eltern auf finanziellen Unterhalt zu verklagen – auch, wenn sie längst volljährig sind. Wenn sich die Betroffenen weigern, wird die Leistung empfindlich gekürzt. Diese Regelung galt bisher nur in manchen Bundesländern, die neue Sozialhilfe zwingt diese schlechte Praxis jetzt allen auf.
In Niederösterreich wurde – entgegen aller Beteuerungen – die Bestimmung nicht umgesetzt, welche eine um bis zu 30% erhöhte Wohnkostenpauschale ermöglicht. Vom Wohnanteil wird weiters die Leistung aus der Wohnbauförderung abgezogen, was insgesamt dazu führt, dass hilfebedürftige Personen weniger fürs Leben und weniger fürs Wohnen erhalten.
Die Sozialhilfe ist umständlich kompliziert. Die Folge: Der Verwaltungsaufwand steigt, dafür werden Leistungen gekürzt. Nach Schätzung der zuständigen Fachabteilung des Landes Kärnten werden die Leistungen für Sozialhilfeempfänger um rund 360.000 Euro sinken. Im Gegenzug wird es in den Sozialämtern durch den erhöhten Verwaltungsaufwand zu Personalmehrkosten in Höhe von rund 1,06 Millionen Euro kommen. Wir zahlen demnach für den Untergang Armutsbetroffener. Die Allgemeinheit soll mehr bezahlen müssen, damit Hilfe suchende Personen weniger erhalten.
In Niederösterreich bietet die Frauenberatung Notwohnungen an, wo jeweils drei Frauen wohnen. In der jetzt eingeführten Sozialhilfe werden diese unsachgemäß als WG bzw. Haushaltsgemeinschaft bewertet. Die dritte Frau bekommt also nur die Hälfte der Existenzsicherung, eine massive Kürzung, die – wie mir eine Betroffene verzweifelt erzählte– „zum Sterben zu viel ist, zum Leben zu wenig“.

Die gerade veröffentlichten Daten der Statistik Austria geben ein realistisches Bild über Lebensbedingungen von Frauen, Männern und Kindern in der Mindestsicherung. Alle Daten stammen von knapp vor den Kürzungen und Einschnitten in der neuen „Sozialhilfe“. Das wird also alles noch schlimmer. Eine große Gruppe ist gesundheitlich angeschlagen und verletzlich. 23% der Mindestsicherungsbezieher weisen einen sehr schlechten Gesundheitszustand auf, 22% sind stark beeinträchtigt durch eine Behinderung. Ihre Wohnungen sind nicht nur kleiner, sondern auch von schlechterer Qualität. Desolates Wohnen wirkt sich besonders hemmend auf Bildungschancen und die Gesundheit der Kinder aus: 20% der Kinder müssen in feuchten Wohnungen leben, 56% ihrer Wohnungen sind überbelegt, 25% liegen in Umgebungen starker Lärmbelastung. Dabei haben mehr als die Hälfte der Familien mit Kindern (57%) Einkommen aus Erwerbstätigkeit. Sie arbeiten. Das weist auf „working poor“ und prekäre Arbeit hin. Working Poor ist überhaupt das große verschwiegene Thema hinter der Debatte um die Mindestsicherung.

Instrumente der Mindestsicherung sind für Krisen gemacht. Das ist ihre Bewährungsprobe. Wenn ein Regenschirm nicht den Regen abhält, wenn das Kletterseil nicht den Sturz abfängt, wenn der Bretterboden nicht stabil vor dem dunklen Keller schützt – wenn also Sozialhilfe gerade in der Krise nichts taugt, dann hat sie ihre Aufgabe verfehlt.


Erschienen in: Die Furche, Juli 2021

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1 Antwort zu Vom Normsturz im sozialen Netz

  1. Артур sagt:

    In sozialen Medien sowie in offentlichen und politischen Diskursen zeigt sich ungehemmte Aggression. Warum finden deeskalierende Stimmen so wenig Gehor? Ein Gastkommentar.

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