Wann ist Weihnachten?

„Von unten gesehen“: eine Erhebung in Corona-Zeiten zur sozialen Lage aus Sicht von Armutsbetroffenen.

„Die Welt dreht sich halt weiter und ich komme irgendwie nicht nach.“ Das sagt ein junges Mädchen, das in einer Familie mit wenig Geld lebt. Eine Studie der Armutskonferenz hat jetzt ihre Stimme und die Stimmen vieler anderer hörbar gemacht. Armutsbetroffene und Armutsgefährdete, Leiharbeiter und Ich-AGs, prekäre Künstler, Leute mit Sozialhilfe und Notstandshilfe, Alleinerziehende und sozial benachteiligte Jugendliche sprachen über ihr Leben in der Corona Krise. Die Befragten setzen diesmal ihre Prioritäten deutlich anders als in der ersten Erhebung im Sommer 2020. Die körperliche Gesundheit, die sozialen Kontakte und vor allem das psychische Wohlbefinden haben an Bedeutung gewonnen. Und auch das Wohnen in zu großer Enge ist nun Thema. Die Erhebung bringt Einblicke, wie sich die soziale Lage „von unten gesehen“ anfühlt.

Arbeitslose sind stark betroffen von psychischem Druck und Existenzangst: am wenigsten aber jene Arbeitslosen, die vor der Corona-Krise einen gut bezahlten Job gehabt hatten; im Gegensatz zu Arbeitslosen mit prekärer Arbeit und geringem Arbeitslosengeld. Wir fanden zwei Gruppen. Eine hat vor der Krise in schlecht bezahlten Jobs gearbeitet, hat keine Ersparnisse und bezieht sehr niedriges Arbeitslosengeld. Diese Menschen sind tatsächlich durch die Corona-Krise und ihren Jobverlust in Armut geraten. Die zweite Gruppe hatte einen gut bezahlten Job, im Idealfall finanzielle Rücklagen und einen ausreichend hohen AMS-Bezug. Das zeigt, wie wichtig ein existenzsicherndes und höheres Arbeitslosengeld ist. Bei prekär Beschäftigten und „working poor“ offenbarte sich ein Muster besonders deutlich: die finanziellen Probleme wirken auf andere in der Familie weiter und bringen diese in einer Kettenreaktion ebenfalls in existentielle Schwierigkeiten. „Ich habe den Haushalt angeschaut und gedacht: schaffe ich nicht. Ich habe alles angeschaut. Ich sollte das machen, schaff ich nicht. Ich sollte dies machen, schaff ich auch nicht. Und dann noch Schlafstörungen dazu“, erzählt eine Mutter mit prekären Jobs. „Der Fünfzehnjährige wollte sein Sparschwein opfern, wie er gehört hat, es geht schlecht.“ Die Jugendlichen hatten unter den finanziellen Problemen ihrer Eltern psychisch mitzuleiden und kämpften mit Gefühlen der Ohnmacht.

Wann ist Weihnachten? Wenn die vierte Kerze brennt, ja, aber auch wenn die Mama aus Existenzängsten nicht krank wird.

Zur Einsamkeit gesellte sich eine Art Gleichgültigkeit: Viele der jungen Leute verloren die Tagesstruktur, schlitterten in Resignation. Einiges blieb unerledigt: Schulaufgaben ebenso wie Hausarbeit. „Zwei Stunden war ich da und dann bin ich eingeschlafen. Stehe um 15 Uhr auf und dann ich denke so, Oida, jetzt habe ich das alles verpasst. Egal. Und ja. Meine Noten haben sich auch arg verschlechtert“, sagt ein Jugendlicher. Zu enge Wohnverhältnisse wurden mehrfach angesprochen. „Manchmal haben wir überhaupt kein Internet gehabt und wir haben viele, viele Probleme gehabt. Zum Beispiel sollte ich vier Fragen stellen. Dann hat meine Schwester zu mir gesagt: Bitte leise. Und ich habe zu meiner Schwester gesagt: Sei du leise“, schildert ein junges Mädchen.Ihre fünfköpfige Familie lebt in einer so kleinen Wohnung, dass mehrere Kinder in einem Zimmer gleichzeitig ihren jeweiligen Online-Unterricht machen mussten. Das Mädchen hat dann ihre Ausbildung abgebrochen, was sie „traurig“ gemacht hat. Bildungsabbrüche während dieser Zeit schildern auch andere Jugendliche und Eltern.

Wann ist Weihnachten? Wenn die Glocke bimmelt am Weihnachtsabend, ja, aber auch wenn die jungen Leute ihre Ausbildungen schaffen.

Armutsbetroffene sind eine Art soziales Fieberthermometer, an dem sich negative, gesellschaftliche Entwicklungen, die später viele treffen, Monate vorab zeigen. Was sie aufgrund der engen Haushaltsbudgets spürten, war die geringfügige, aber stetige Preissteigerung bei Lebensmitteln, aber auch bei Wohnen und Energie. Sie weisen hier ein geschärftes Sensorium auf, weil sie aufgrund ihrer ausgesetzten Position in der Gesellschaft schon kleinste Veränderungen am eigenen Leib spüren. „Ich habe das Glück, dass ich drei riesige Biotonnen in der Nähe von meiner Wohnung habe, und ich das aus dem Mist hole, das Essen, teilweise nicht alles. Ja, meistens geht es gut, aber manchmal geht es nicht gut. Ich habe viel mehr Erkrankungen, also Brechdurchfall oder so etwas.“ Das erzählt eine alte Frau.

Wann ist Weihnachten? Wenn die Kekse am Tisch stehen, ja, aber auch wenn Menschen nicht Hungern müssen, um die Miete zu zahlen.

Der Abzug der Wohnbeihilfe in der neu eingeführten „Sozialhilfe“ führt zu massiven Problemen. Frauen, Männer und Kinder haben zu wenig zum Wohnen, zu wenig zum Leben. Um ihre Miete zu zahlen, müssen die Betroffenen das aufbrauchen, was eigentlich für den notwendigsten Lebensunterhalt dienen sollte.

Zusammenfassend zeigt uns diese Erhebung „von unten“, wie wichtig ein existenzsicherndes und gutes Arbeitslosengeld ist, wie massiv sich beengtes Wohnen auf Bildung und Gesundheit der Kinder auswirkt, welch zerstörerische Folgen eine schlechte Sozialhilfe zeitigt, wie stark Depressionen und Einsamkeit mit Existenzangst verbunden sind.
Wann ist Weihnachten? Wenn die schönen Lieder von der Krippe und dem Stall erklingen, ja, aber auch wenn menschenwürdiges Dasein nicht „jenseits“ ist.


Erschienen in: Die Furche, 15.12.2021 „Armut und Corona: Wann ist Weihnachten?“

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