Corona und Armut: Brot und Rosen im Krisenstab

Einen Korb voller Brot brachte Elisabeth die Stiegen hinunter. Heimlich. Es war ihr von der Herrschaft verboten worden, Leuten in sozialer Not Essen zu bringen. Sie trat in den Hof, blickte vorsichtig nach allen Seiten und wollte durch das Tor rasch ins Freie entschwinden.

Da sprangen zwei Wachen aus der Dunkelheit hervor und hielten sie auf. Die Soldaten zwangen Elisabeth das Tuch über dem Brot zu lüften, um zu kontrollieren, was die junge Frau da verdächtig mit sich trug. Doch der Korb war voller Rosen. Elisabeth durfte weitergehen. Das Brot kam zu denen, die es benötigten. Seit dieserGeschichte aus der mittelalterlichen Grafschaft Thüringens des 13. Jahrhunderts sind Brot und Rosen miteinander verbunden. In den USA organisierten sich vor 100 Jahren Näherinnen mit dem Ruf „Wir brauchen Brot, aber wir brauchen die Rosen dazu“. 20.000 Textilarbeiterinnen kämpften in Massachusetts für ein Einkommen, von dem sie und ihre Kinder auch leben konnten. Brot steht für die existentiellen Lebensmittel, für Materielles, für Existenzsicherung, Einkommen, leistbares Wohnen, Arbeit. Die Rosen weisen auf die Lebensmittel, die man nicht essen kann, aber trotzdem zum Leben braucht – wie Anerkennung, Musik, Freundschaften oder Vertrauen. Um das geht es auch heute. Hunderttausende machen sich Sorgen um den Job, Hunderttausende kommen mit dem schlechten Lohn nicht über die Runden, Wohnen ist unleistbar und das soziale Netz der Mindestsicherung wurde zerschnitten. Die Corona Krise macht sichtbar, unter welchen Folgen Menschen am meisten leiden, wenn sie der Rosen beraubt sind: Einsamkeit, Schlafprobleme, Erschöpfung. Die Rosen machen die Welt lebendig.
Arbeitslose sind stark betroffen von psychischem Druck und Existenzangst, am wenigsten aber jene Arbeitslosen, die vor der Corona-Krise einen gut bezahlten Job gehabt hatten; im Gegensatz zu Arbeitslosen mit prekärer Arbeit und geringem Arbeitslosengeld. Wir fanden zwei Gruppen. Eine hat vor der Krise in schlecht bezahlten Jobs gearbeitet, hat keine Ersparnisse und bezieht sehr niedriges Arbeitslosengeld. Diese Menschen sind tatsächlich durch die Corona-Krise und ihren Jobverlust in Armut geraten. Die zweite Gruppe hatte einen gut bezahlten Job, im Idealfall finanzielle Rücklagen und einen ausreichend hohen AMS-Bezug. Das zeigt, wie wichtig ein existenzsicherndes und höheres Arbeitslosengeld ist. Bei prekär Beschäftigten und „working poor“ offenbarte sich ein Muster besonders deutlich: die finanziellen Probleme wirken auf andere in der Familie weiter und bringen diese in einer Kettenreaktion ebenfalls in existentielle Schwierigkeiten. „Ich habe den Haushalt angeschaut und gedacht: schaffe ich nicht. Ich habe alles angeschaut. Ich sollte das machen, schaff ich nicht. Ich sollte dies machen, schaff ich auch nicht. Und dann noch Schlafstörungen dazu“, erzählt eine Mutter mit prekären Jobs. „Der Fünfzehnjährige wollte sein Sparschwein opfern, wie er gehört hat, es geht schlecht.“ Die Jugendlichen hatten unter den finanziellen Problemen ihrer Eltern psychisch mitzuleiden und kämpften mit Gefühlen der Ohnmacht. „Die Welt dreht sich halt weiter und ich komme irgendwie nicht nach.“ Das sagt ein junges Mädchen, das in einer Familie mit wenig Geld lebt. Eine Studie hat jetzt ihre Stimme und die Stimmen vieler anderer hörbar gemacht. Armutsbetroffene und Armutsgefährdete, Leiharbeiter und Ich-AGs, prekäre Künstler, Leute mit Sozialhilfe und Notstandshilfe, Alleinerziehende und sozial benachteiligte Jugendliche sprachen über ihr Leben in der Corona Krise. Der Abzug der Wohnbeihilfe in der neu eingeführten „Sozialhilfe“ führt zu massiven Problemen. Um ihre Miete zu zahlen, müssen die Betroffenen das aufbrauchen, was eigentlich für den notwendigsten Lebensunterhalt dienen sollte. Hungern für die Miete. Diese Erhebung „von unten“ zeigt uns, wie wichtig ein existenzsicherndes und gutes Arbeitslosengeld ist, wie massiv sich beengtes Wohnen auf Bildung und Gesundheit der Kinder auswirkt, welch zerstörerische Folgen eine schlechte Sozialhilfe zeitigt, wie stark Depressionen und Einsamkeit mit Existenzangst verbunden sind.

Eine Pandemie ist immer eine „Syndemie“. Das Geschehen ist geprägt von Wechselwirkungen zwischen sozialen, ökonomischen, psychischen und physischen Kräften. Das sollte sich eigentlich in der Zusammensetzung der Krisenstäbe abbilden. Eben Brot und Rosen. Die Rosen gestalten unseren Alltag der Weltbeziehungen: 1. Einsamkeit bedeutet sich von der Welt getrennt fühlen. Die Welt gibt es da draußen, aber ich bin nicht mehr mittendrin. Die Welt mag tönend, farbig, warm und frisch sein. Meine Welt ist es nicht. Die Welt ist fremd geworden zu einem selbst. Wer sich von allen guten Geistern verlassen fühlt, verliert auch das Vertrauen in die Welt rundum. 2. Vertrauen heißt sich der Welt zugewandt fühlen. „Den meisten kann man vertrauen. Stimmt das?“ Am wenigsten „Ja“ darauf sagen können diejenigen, die schlechte Jobs haben, die unter der Armutsgrenze leben, die am sozialen Rand stehen. 3. Einander zu erleben als welche, die Einfluss haben, deren Handeln Sinn macht, wird als „Selbstwirksamkeit“ bezeichnet. Die Welt bekommt einen Sinn. Mit Ohnmacht vergeht dieser „Weltsinn“. Auch hier sind die Rosen nicht gleich verteilt. Je geringer der soziale Status, desto eher erleben die Betroffenen Situationen der Ohnmacht, der Einsamkeit und der Beschämung. 4. Achtung und Wertschätzung bedeuten, in der Welt gesehen zu werden. Um diese Gefühle der Respektabilität wurden in der Geschichte des Sozialstaats stets die zentralen Auseinandersetzungen geführt. Im Guten wie im Schlechten. Für Brot – und den Rosen dazu.

Erschienen in: Der Standard, Kommentar der Anderen, „Corona und Armut: Brot und Rosen im Krisenstab“, 4.01.2022

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