Schreiben über Armut in der Krisengesellschaft.

Daniel Blake geht aufs Arbeitsamt. Dem 50jährigen Tischler hat seine Gesundheit einen Strich durch die Rechnung macht. Nach einem Herzinfarkt muss er um die ihm zustehenden Sozialleistungen kämpfen, in einem von Politik und Boulevardmedien aufgeheizten Klima der Verachtung von Einkommensarmen. Beim Sichten von Anträgen und Formularen lernt er eine alleinerziehende Mutter kennen, die ähnlich erniedrigende Erfahrungen mit der Bürokratie gemacht hat. Der Film „I, Daniel Blake“ erzählt diese Geschichte aus dem mit Sozialkürzungen und Workfare devastiertem England. „Alles bringt mich auf den Gedanken, dass dein Film von gesellschaftlicher und politischer Verfolgung handelt“, sagt Schriftsteller Edouard Louis, der in den letzten Jahren mehrere Erzählungen über seine Kindheit in Armut veröffentlicht hat, in einem Gespräch zum Regisseur des Filmes Ken Loach. Die Betroffenen fühlen sich verfolgt, nicht im pathologischen Sinn einer Paranoia, sondern im Verhältnis zu realen gesellschaftlichen bzw. staatlichen Regulierungsinstrumenten. So haben Arbeitsloseninitiativen in Deutschland die Maßnahmen rund um Hartz-IV als „Verfolgungsbetreuung“ bezeichnet. „Wenn man das Leben meines Vaters oder das von Daniel Blake betrachtet, ist doch frappierend, in welchem Ausmaß diese Leben von Verfolgung geprägt werden, nicht nur von gesellschaftlicher Ausgrenzung, auch wenn beide Mechanismen Hand in Hand gehen können“, sagt Louis.
Wer heute arm ist, gehört zu den Verworfenen. Armut ist nicht Entbehrung, sondern Demütigung. Vor allem bietet sie eines nicht mehr: den Aspekt des Aussteigens. Es ist fast irreführend Arme als „Ausgegrenzte“ zu bezeichnen. Zwar sind sie von den materiellen Möglichkeiten in der Gesellschaft gründlich ausgeschlossen, aber nicht von diesem System selbst. Vielmehr sind sie seinen Zwängen am meisten ausgeliefert. Gerade die, die liegengelassen wurden, werden nicht mehr losgelassen. Die am meisten Ausgeschlossenen sind die am meisten Eingeschlossenen.
In den beiden aktuell erschienen Büchern geht es um Armut in der Krisengesellschaft und um das Sprechen darüber. In beiden Büchern werden die zahlreichen Texte gesichtet, in denen Autoren das eigene Aufwachsen und Leben in Armut autobiografisch und literarisch beschreiben. Die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux kommt auf Erfahrungen von Demütigung und Beschämung zu sprechen. „Es war normal, sich zu schämen, als wäre die Scham eine Konsequenz aus dem Beruf meiner Eltern, ihren Geldsorgen, ihrer Arbeitervergangenheit, unserer ganzen Art zu leben. Die Scham wurde für mich zu einer Seinsweise. Fast bemerkte ich sie gar nicht mehr, sie war Teil meines Körpers geworden“. Marlen Hobrack kennt das. Die Schriftstellerin und Journalistin hat, als sie Sozialhilfe bezog, einen Möbelgutschein für einen Sozialmarkt bekommen, den sie auch aufsuchte. “Ich verließ das Sozialkaufhaus, dieses Kaufhaus für Arme, mit leeren Händen.“
Romanautor Christian Baron benennt die Anmaßungen und die Verachtung, die Ärmere auch in „gebildeten“ und „liberalen“ Kreisen erfahren. Barons Vater war Möbelpacker, die Mutter Hausfrau, vier Kinder. Sie litt an Depressionen und verstarb im Alter von 32 Jahren an Krebs. Baron erzählt sein Aufwachsen in Kaiserslautern vor dem Hintergrund einer sozialen Klassengesellschaft, die Armut bewusst in Kauf nimmt. Der Bub muss so hungern, dass er mit den Fingernägeln den Schimmelpilz von den Wänden kratzt und isst. Er sieht, wie seine Mutter verfällt, mit einer Krankheit, die wahrscheinlich besser behandelt werden könnte, er erfährt, wie Empfehlungen für das Gymnasium zerschellen, wenn niemand da ist, der hilft. „Wie entwickelt sich ein Kind, dem durch das Bildungssystem suggeriert wird, dass aus ihm eh nichts werde, während einem anderen durch seine Startposition ein Vorsprung in den Schoß fällt: durch Geld, Selbstvertrauen, die `richtigen´ Sprachcodes, den passenden Habitus oder Beziehungen und Kontakte? Warum muss eine alleinerziehende Mutter einer mies bezahlten Lohnarbeit nachgehen und sich zugleich rund um die Uhr um kranke Angehörige kümmern? Was bedeutet es für ein Gemeinwesen, wenn eine Elite ihren Lebensentwurf auf Kosmopolitismus und permanente Mobilität aufbauen kann, derweil die meisten nicht vom Fleck kommen.“
Edouard Louis, Annie Ernaux, Marlen Hobrack, Christian Baron und andere autosoziografische Autoren wie Didier Eribon oder Anna Mayr – sie sind Universitätsprofessoren, Journalistinnen bei renommierten Wochenzeitungen, mehr oder weniger erfolgreiche Schriftstellerinnen und Publizisten. Sie haben es aus der Armut geschafft. Da liest man die Erzählungen der schweren Kindheit mit der wohligen Gewissheit, dass alles zu einem guten Ende führte. Anna Mayr, aufgewachsen in Armut, jetzt Redakteurin bei der Zeit, ist sich dieses Zusammenhangs bewusst. „Der neue Hype ums Scheitern hat deshalb nichts mit Respekt vor den Verlierern zu tun. (…) schick ist Scheitern erst dann, wenn es längst überwunden ist.“ Verlierergeschichten gehen nicht so gut, gebe es nicht den bereits eingepreisten Erfolg. „Das ist, was wir unter Scheitern verstehen: doch noch zu gewinnen“.
Armut in der Krisengesellschaft, Löcker
Nikolaus Dimmel, Karin Heitzmann, Martin Schenk, Christine Stelzer-Orthofer (Hg)
Armutsdiskurse. Perspektiven aus Medien, Politik und Sozialer Arbeit, transkript
Anja Kerle, Fabian Kessl, Alban Knecht (Hg.)
Erschienen im Album, Der Standard, Rezension: Zwei neue Bücher über Armut in der Krisengesellschaft, 2.März 2025.