Die Angst vor der Angst

Der Bursche hat eine klassische Heimkarriere durchlaufen. Schon als kleines Kind war Raphael mit einer massiven Überbelastung seiner Familie konfrontiert. Er reagierte mit Auszucken.

Seine Familie bleibt instabil und kann das Kind nicht adäquat versorgen. Die „Zerrissenheit“, die Raphael spürt, belastet seine Entwicklung sehr stark. Insbesondere in der Schule verstärken sich Frustration, Versagensängste, Wut und Aggression. In der Wohngemeinschaft, in die er als Jugendlicher kommt, gelingt es Vertrauen aufzubauen, ihm Sicherheit und Stabilität zu geben. „Ich kann doch etwas“, ist Raphaels erstmalige Erfahrung. Dann kommt der Sprung zur Lehre. Beim Betrieb mögen sie den Burschen. Sie finden sogar er ist super.
Durch die Verzögerung und vielen Schleifen in seiner Entwicklung wird Raphael nun im ersten Lehrjahr 18 Jahre alt. Das heißt: Kurz vor der ersten Berufsschule muss er am Jahresende gesetzlich die WG verlassen und ohne Nachbetreuung seinen Weg alleine bestreiten. Seine Familie ist nicht in der Lage Unterstützung zu leisten. Aktuell werden in Österreich nur ein geringer Teil der Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem 18. Geburtstag verlängert.

Kinder und Jugendliche sind jetzt in der Corona-Krise massiv unter Druck. Wir merken das auch am Krisentelefon, in den mobilen Therapien, Jugendnotschlafstellen oder Wohngemeinschaften. Die Kräfte, die die jungen Leute haben, sind unterschiedlich verteilt. Viele sind Überlebenskünstlerinnen und Künstler. Sie kennen Krisen. Sie sind mit Krisen aufgewachsen. Das gibt ihnen jetzt auch eine gewisse Stärke. Aber die Erschöpfung ist groß. Corona hat an der Zuversicht geknabbert, dass es gut weitergeht und dass alles einen Sinn hat. Zuversicht und Sinn sind aber Lebensmittel besonders für junge Leute, die von Haus aus schon eine schwierige, belastende Kindheit hatten. Eine Pandemie bedeutet eigentlich immer eine „Syndemie“. Das Geschehen ist geprägt von Wechselwirkungen; von Verstärkungen zwischen sozialen, ökonomischen, psychischen und physischen Kräften. Depressionen, Essstörungen, Ängste, Kopfweh und Schlafstörungen sind massiv gestiegen: Umso stärker je unsicherer der Alltag, je geringer das Einkommen, je beengter die Wohnung.

Wie wird es mit Raphael weitergehen? Es gibt zwei Szenarien: wenn er allein bleibt, werden ihn wohl seine Versagensängste wieder einholen: „das schaffe ich nicht“, „ich kann es gleich bleiben lassen“ usw. Mit der Unterstützung vertrauter Menschen kann er es aber schaffen, vielleicht sogar einer der wenigen werden, die die Berufsschule mit sehr gutem Erfolg abschließen. Ohne diese Unterstützung aber wird er wohl das machen, was er über lange Zeit vorher eintrainiert hat, es sich – weil er Scheitern befürchtet – selbst zerstören. Die Angst vor der Angst ist teuflisch.
In Norwegen geht die Unterstützung bis zum Alter von 24 Jahren. In Deutschland können die Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe bis 26 verlängert werden. In Österreich steht im Regierungsprogramm, dass hier bundesweit etwas getan werden muss. Auf was wird gewartet? Jugendliche mit schwieriger Lebensgeschichte brauchen Begleitung und Betreuung über das 18. Lebensjahr hinaus. Diese Begleitung beugt Abstürzen vor. Die Hauptwährung dabei ist Vertrauen, die Lebensmittel sind Zuversicht und Sinn. Mit nur drei Betreuungsstunden in der Woche könnte Raphaels Scheitern mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindert werden. Das kostet nicht viel. Es wird uns allen aber ein Vielfaches kosten, wenn der Bursche kurz vor dem Ziel einfach allein gelassen wird.

Erschienen in: Die Presse, 11.11.2021, „Die Angst vor der Angst“

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