Was braucht`s zum guten Leben?

Samstagnachmittag in der Sozialberatungsstelle. Gut 20 Frauen und Männer kommen hier monatlich zu einem Austausch zusammen. Als Thema steht heute die Frage nach dem guten Leben auf dem Programm. Für Maria zum Beispiel gehören gute Bus- und Bahnverbindungen unbedingt dazu, weil sie sonst nicht mobil genug wäre und kaum Freiräume hätte. Anna kann sich ein gutes Leben nicht ohne Musik vorstellen, Peter fallen zuallererst Bücher ein, die er braucht, „damit die Welt größer wird“. Margot ist ein Platz zum Wohlfühlen besonders wichtig, Irene weist auf die Leichtigkeit hin, für Baruch sind sinnvolle Arbeit und gerechter Lohn unverzichtbar. Schnell wird klar, dass es mit einer Sache meist nicht getan ist und dass zu einem guten Leben vielerlei und Unterschiedliches gehören. Dabei geht es nicht nur um die Verteilung von Geld, sondern auch um die von Lebensqualität, Wohlbefinden, Chancen, Anerkennung, Gesundheit oder Lebenserwartung.

Das Fehlen einer Komponente kann nicht durch ein „Mehr“ einer anderen Komponente wettgemacht werden. Weil Bildung, Essen, Gesundheitsversorgung gerade in ihrer Kombination wichtig sind undDeals à la „Ihr bekommt mehr zu essen,dafür gibt es keine Redefreiheit“ nicht demguten Leben dienen. Esgeht darum, was Menschen haben – und immer auch darum, was sie tun und sein können. Reden wir über Armut, zahlt es sich aus, nicht immer vom Mangel auszugehen, sonderndas Ganze im Blick zu haben, das gute Leben, die Fülle zu sehen. Was gehört zum guten Leben? Jedenfalls immer auch materielle Sicherheit. Geld macht zufrieden. Wer arm ist und sich materiell verbessert, erhält einen deutlichen Anstieg der Zufriedenheit.

Die Effekte sind bei Ärmeren besonders stark. Insgesamt sind Menschen mit höherem Einkommen zufriedener und äußern höheres Wohlbefinden. Allerdings erfolgt ab einem gewissen Einkommen keine Steigerung mehr. Geld macht zufrieden, aber nicht unbegrenzt. Anders bei Gesundheit und Lebenserwartung: Die steigen linear mit höherem Einkommen und sozialer Stellung. Steige ich im 15. Wiener Gemeindebezirk in die U-Bahn und am Stephansplatz wieder aus, dann liegen dazwischen wenige Minuten Fahrzeit – aber vier Jahre an Lebenserwartung der jeweiligen Wohnbevölkerung. Es lässt sich eine soziale Stufenleiter nachweisen, ein sozialer Gradient, der mit jeder vorrückenden Einkommensstufe die Gesundheit verbessert und das Sterbedatum nach hinten verschiebt.

So konnte in allen Industrieländern festgestellt werden, dass mit fallendem Durchschnittseinkommen die Krankheiten ansteigen, dass in nahezu allen Gesellschaften die untersten sozialen Schichten die häufigsten und die schwersten Erkrankungen haben und dass mit dem Abfall der Einkommen die Lebenserwartung deutlich sinkt. Gesellschaften mit größeren Ungleichheiten in Einkommen, Arbeit und Wohnen weisen einen schlechteren gesundheitlichen Gesamtzustand auf als solche mit ausgewogener Verteilung von Einkommen und Lebenschancen. Sobald ein bestimmter Grad an Wohlstand erreicht ist, dürfte die relative Höhe des Einkommens ausschlaggebend für die gesundheitliche Situation sein. In den ärmeren Teilen der Erde ist mit höherer Wirtschaftsleistung pro Kopf eine höhere Lebenserwartung verbunden. In den reichen Ländern ist ein derartiger Zusammenhang nichtmehr nachweisbar. Eskonnte aber ein erstaunlich hoher Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und dem Anteil am Volkseinkommen, welchen die ärmeren Haushalte beziehen, nachgewiesen werden. Die Ausgewogenheit von Einkommensverhältnissen und Statusunterschieden wurde als jener Faktor identifiziert, der am stärksten die höhere Erkrankungsrate Ärmerer erklärt. Der Anstieg der Lebenserwartung in einem Zeitraum fiel umso größer aus, je größer der relative Zuwachs an Einkommen der ärmeren Haushalte war. Unter den modernen Industriegesellschaften sind nicht die reichsten Gesellschaften die gesündesten, sondern diejenigen mit den geringsten Unterschieden zwischen Arm und Reich. Die Verschärfung sozialer Unterschiede hat also konkrete lebensweltliche Auswirkungen.

Die soziale Schere kommt uns allen teuer. Mehr soziale Probleme verursachen volkswirtschaftliche Kosten. Eine höhere Schulabbrecherquote beispielsweise bringt steigende Sozialausgaben, höhere Gesundheitskosten und entgangene Steuereinnahmen. Geht die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auf, bedeutet das mehr Krankheiten und geringere Lebenserwartung, mehr Teenager-Schwangerschaften, mehr Statusstress, weniger Vertrauen, mehr Gewalt und mehr soziale Ghettos. Dazu gibt es Bücherregale voll empirischer Belege aus der Public-Health-Forschung.

Gesellschaften mit größerer Ungleichheit unterscheiden sich von denen mit weniger Ungleichheit auch in anderen Aspekten. Etwa im Vertrauensniveau. Lerne ich den Geschmack vom zukünftigen Leben als Konkurrenz, Misstrauen, Verlassensein, Gewalt kennen? Oder habe ich die Erfahrung qualitätsvoller Beziehungen, von Vertrauen und Empathie gemacht? Werde ich schlecht gemacht und beschämt oder geschätzt und erfahre Anerkennung? Ist mein Leben von großer Unsicherheit, Angst und Stress geprägt oder von Vertrauen und Planbarkeit? Je ungleicher Gesellschaften sind, desto schlechter sind die psychosozialen Ressourcen.

Sprung nach London: 17.000 Beschäftigte in Ministerien wurden auf Unterschiede in der Sterberate bei Herzerkrankungen untersucht. Die niederen Dienstränge hatten eine bis zu viermal höhere Sterberate bei Herzerkrankungen als die oberen Dienstränge. Nimmt man ihnen Blut ab, finden sichin den unteren Rängen weit höhere Werte des Stresshormons Kortisol als bei den Top-Diensträngen.

An sich ist Stress nichts Schlechtes, er gehört zum täglichen Leben. Stress ist nichts weiter als der Versuch des Körpers, sich in anstrengenden Zeiten an die Situation anzupassen. Wenn aber Entspannung über einen längeren Zeitraum hinweg ausbleibt, wird es gesundheitlich belastend. DieÜberbeanspruchung der eigenen Ressourcen macht Menschen verletzlicher, schwächt die Widerstandsfähigkeit, macht anfälliger für Krankheiten. So schwinden sowohl die persönlichen Ressourcen als auch die sozialen. Chronischer Stress entwickelt sich schleichend, ohne erkennbaren Anfang, als dauerhafte Belastung mit einem typischerweise längeren Zeitverlauf. Teil von chronischem Stress sind belastende „non-events“, Geschehnisse, die man erwartet, die aber nicht eintreten, wie etwa erhoffte Entlastung oder zugesagter Job oder finanzieller Zuspruch.

Dauerhafter Stress kann zu hohem Blutdruck, Gefäßerkrankungen, erhöhtem Infarktrisiko führen. Die sogenannte Managerkrankheit mit Bluthochdruck und Infarktrisiko tritt bei Armutsbetroffenen dreimal so häufig auf wie bei den Managern selbst. Aber nicht weil die Manager weniger Stress haben – sondern weil sie die Freiheit haben, den Stress zu unterbrechen: mit einem schönen Abendessen oder einem Flug nach Paris. Sie können sich Erholung gönnen, was die anderen nicht können. Den Unterschied macht die Freiheit.

Ein Leben auf dem Drahtseil in Balance zu halten ist fast unmöglich. Armut bedeutet einen drückenden Drahtseilakt tagtäglich zwischen „es gerade noch schaffen“ und Absturz. Die Betroffenen sind bunter, als der schnelle Blick glauben macht. Der Dauerpraktikant mit Uni-Abschluss und der Schulabbrecher, die Alleinerzieherin und die Langzeitarbeitslose, der Mann mit Depression und der Überschuldete, das Mädchen in der Leiharbeitsfirma wie der Sohn als Ich-AG.

Sie schreit und kreischt, krümmt sich, das Kinn kippt nach vorne, der Körper schüttelt sich – die schöne Keira Knightley im Kino einmal ganz schiach. Der Film „A Dangerous Method“ widmet sich der Königin der Neurosen, der Hysterie. Die „gefährliche Methode“ ist die Psychoanalyse. Die Spaziergänge im Unbewussten legen eine Welt frei, die im Körper Innen und Außen verschmelzen lassen. Die Welt geht unter die Haut und schneidet in die Körper. Die Sexualmoral des 19. Jahrhunderts samt Ohnmachtposition von Frauen mischt sich unters Seelenfleisch. Frauen hatten anmutig, tugendhaft, asexuell, rein und kontrolliert zu sein. In ihnen sollte sich das Gute, Edle und Schöne widerspiegeln. Die Hysterikerin trat demgegenüber als der teuflische Gegentypus auf. Sie zeigte sich unberechenbar, ekstatisch und der Realität entrückt.

100 Jahre später dominiert das erschöpfte Selbst. „Burn-out“ ist zur großen Diagnose geworden. Oft versteckt sich dahinter eine Depression. Da geht es um den schlechten Stress, der nagt und quält, der lange dauert und niederhält. Der psychische Apparat drückt die Stopptaste: Alles wird langsamer, alles wird müder, Zusammenbruch – nichts geht mehr. Tätigkeiten, die hohe Anforderungen stellen und gleichzeitig mit einem niedrigen Kontrollspielraum ausgestattet sind, erhöhen diesen schlechten Stress. Die niedrige Kontrolle kann in zwei Formen auftreten: zum einen nicht über die Gestaltung der Arbeitsaufgaben entscheiden zu können, zum anderen nicht die Möglichkeit zu haben, die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu nutzen. Dauern diese Ohnmachtserfahrungen an, lernen wir Hilflosigkeit: Lass mich erleben, dass ich nichts bewirken kann. Wer feststellt, dass er trotz aller Anstrengungen nichts erreichen kann, der wird früher oder später resignieren und aufgeben. Der Giftcocktail besteht aus drei Zutaten: aus hoher Anforderung, niedriger Kontrolle und niedriger Anerkennung. Wenn ich mich anstrenge, viel in eine Sache hineinbuttere und dann nichts herausbekomme – keine Anerkennung, kein freundliches Wort, dafür miesen Lohn und keine Aufstiegschancen –, dann wird es massiv gesundheitsschädlich. Das ist wie Vollgas fahren bei angezogener Handbremse.

Der Giftcocktail aus Anstrengung, Ohnmacht und mangelnder Anerkennung hat sich in die Mitte der Gesellschaft gefressen. Besonders in den schlechten Jobs mit mieser Bezahlung und geringem Einfluss kommt er zur Wirkung. Und die werden mehr. Gerade auch jetzt nach der Finanzkrise ist eine große Zahl besserer Jobs in viele kleine schlechtere umgewandelt worden. „Prekär“ heißt ja wörtlich nicht nur „unsicher“, sondern lateinisch eigentlich „auf Widerruf gewährt“, „auf Bitten erlangt“. Da steckt der geringe Umfang an Kontrollchancen und Handlungsspielräumen bereits im Begriff. Die Spaziergänge im Unbewussten treffen auf andere Landschaften, die Wege aber bleiben die gleichen. Die soziale Schere geht unter die Haut und schneidet in die Körper.

Lebensmittel sind etwas zum Essen. Es gibt aber auch Lebensmittel, die wir nicht essen können und trotzdem zum Leben brauchen. Besonders Menschen, die es schwer haben, sind darauf angewiesen. So auch Peter, der sich mit einem Billigjob nach dem anderen durchschlagen muss. Die Resilienzforschung, die sich damit beschäftigt, was Menschen „widerstandsfähig“ macht, gerade in schwierigen und belastenden Situationen, hat eine Reihevon solch stärkendenFaktoren gefunden.

Es sind vor allem drei „Lebensmittel“, diestärken. Erstens: Freundschaft. Soziale Netze, tragfähige Beziehungen stärken. Das Gegenteil schwächt: Einsamkeit und Isolation. Menschen in Armutslagen leben wesentlich öfter allein, haben seltener Kontakte außerhalb des Haushaltes. Mit zunehmendem sozialem Abstieg schwinden die sozialen Netze, Freunde verabschieden sich. Bei Frauen in Armutslagen ist soziale Isolation besonders stark ausgeprägt, während sie bei Männern vor allem gleichzeitig mit Arbeitslosigkeit auftritt. Armut isoliert. Alle Studien weisen darauf hin, dass Menschen am Rand der Gesellschaft sich tendenziell aus allen öffentlichen und politischen Zusammenhängen zurückziehen. In den unteren Einkommensschichten, dort, wo jeder Euro, der verdient wird, für das Überleben ausgegeben werden muss, ist man mit dem Alltag beschäftigt. Da bleibt keine Zeit. Kinder müssen gut versorgt werden – auch mit wenig Geld.

Das zweite Lebensmittel ist Selbstwirksamkeit. Damit ist gemeint, dass ich das Steuerrad für mein eigenes Leben in Händen halte. Kann man selber noch irgendetwas bewirken, ergibt Handeln überhaupt einen Sinn? Die Erfahrung schwindender Selbstwirksamkeit macht krank. Das sind angesammelte Entmutigungserfahrungen. Ein intaktes „Kohärenzgefühl“, wie es der Mediziner Aaron Antonovsky formuliert hat, ist eine wichtige Gesundheitsressource: Eine „globale Orientierung, die das Ausmaß ausdrückt, in dem jemand ein Gefühl des Vertrauens hat, dass die Anforderungen im Lauf des Lebens vorhersagbar und erklärbar sind und dass dies Anforderungen Herausforderungen sind, die Investition und Engagement verdienen“. Teilhabechancen undHandlungsspielräume zu erhöhen hilft, Lebenssituationen zu bewältigen – und stärkt die Widerstandskräfte.

Das dritte Lebensmittel ist Anerkennung. Anerkennung und Respekt stärken. Das Gegenteil ist Beschämung. Die wirkt wie Gift. Peter erlebt das tagtäglich. Er strengt sich an und kriegt nichts heraus. Der belastende Alltag am finanziellen Limit bringt keine „Belohnungen“ wie besseres Einkommen, Anerkennung, Unterstützung oder sozialen Aufstieg. Der schlechte Stress, der in einer solchen „Gratifikationskrise“ entsteht,wirkt besonders beiMenschen in unteren Rängen. Die Folge: eine hohe Zahl von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Gratifikationskrisen lösen starke negative Gefühle aus und gehen mit exzessiver Aktivierung des autonomen Nervensystems einher samt neurobiologischen Folgen.

Es sind nicht nur die Belastungen sozial ungleich verteilt, sondern auch die Ressourcen, sie zu bewältigen. Anerkennung müsste eigentlich unbegrenzt vorhanden sein. Ist sie aber nicht. Sie wird wie Geld zu einem knappen Gut, das sich nach dem sozialen Status und der sozialen Hierarchie in einer Gesellschaft verteilt. Es gibt weniger Inklusion, das heißt, häufiger das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Es gibt weniger Partizipation, also häufiger das Gefühl, nicht eingreifen zu können. Es gibt weniger Reziprozität, also häufiger das Gefühl, sich nicht auf Gegenseitigkeit verlassen zu können. Wer sozial Benachteiligte zu Sündenböcken erklärt,wer Leute am Sozialamt bloßstellt, werZwangsinstrumente gegen Arbeitssuchende einsetzt, wer mit erobernder Fürsorge Hilfesuchende entmündigt, der vergiftet diese „Lebensmittel“. Wer aus der Armut helfen will, muss Menschen stärken. Mit den drei Lebensmitteln, die man nicht essen kann: mit Freundschaften, Selbstwirksamkeit und Anerkennung.

Der Unterschied zwischen unten und oben zeigt sich in dem Ausmaß, in dem man über Versorgungs- und Einkommensspielraum verfügt, über Kontakte und Kooperationen, über Muße- und Regenerationschancen und über Möglichkeiten der Mitbestimmung und des Mitentscheidens: Bei Reichtum geht es ja nicht nur um das ausgegebeneGeld, die konsumistische Seite. Es geht auch um den Möglichkeitsraum, den Reichtum für diebetreffenden Personen eröffnet. Ein Sicherheitsraum entsteht, der sichaus dem Konjunktivnährt. Für den Fall, dass man’s hat, wenn man’s braucht. Reichtum definiert sich durchkapitale Möglichkeiten: mehr Inklusion, mehr Partizipation, mehr Reziprozität.

So geht es in der Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheiten um die Erhöhung der „Verwirklichungschancen“ Benachteiligter, wie es der Wirtschaftsnobelpreisträger und Armutsforscher Amartya Sen formuliert. Seitenverkehrt zum Reichtum ist Armut eine der existenziellsten Formen von Freiheitsverlust. Armut ist nicht nur ein Mangel an Gütern. Es geht immer auch um die Fähigkeit, diese Güter in Freiheiten umzuwandeln. Teilhabechancen und Handlungsspielräume zu erhöhen hat mit dem Gefühl der Bewältigbarkeit einer Lebenssituation zu tun – und ist gesundheitsfördernd.

Nur weil ein Baum mit Birnen in der Wiese steht, heißt das noch nicht, dass alle die Birnen auch pflücken können. Denn Freiheit erschließt sich für den Menschen, der vor einem Baum voller Birnen steht, nicht einfach dadurch, dass es einen Birnbaum gibt, sondern dass auch dem Kleinsten noch eine Leiter zur Verfügung steht. Es geht um die Möglichkeiten, die es braucht, um Güter in persönliche Freiheiten umzusetzen. Möglichkeiten sind Infrastruktur, einegute Schule, Leitern sozialen Aufstiegs, Kinderbetreuung zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Gesundheitsdienstleistungen, therapeutische Hilfen und vieles mehr.

Und alle Leitern nützen nichts, wenn die Person nicht auf Leitern steigen kann. Alle gute Ausbildung nützt nichts, wenn es keine Jobs gibt. Und alle Möglichkeiten nützen nichts, wenn der Birnbaum hinter einer Mauer verborgen ist und bestimmte Bevölkerungsgruppen vom Zugang ausgeschlossen sind.

All das ist für die Armutsbekämpfungwichtig: ein offener Zugang zu den Gütern des Lebens, bedarfsgerechte Möglichkeiten, sie zu erreichen, und Investitionen in die Fähigkeiten von Menschen.

Zurück zum Treffen in der Sozialberatungsstelle. „Eine arme Frau will ich ganz sicher nicht genannt werden“, meint Marianne beim Treffen. „Arm sein, das klingt, als hätte ich nichts anderes zu bieten als die Tatsache, dass ich mit wenig Geld auskommen muss.“

Das Schlimmste an der Armut ist, dass man arm ist – und weiter nichts. Das Einzige, das die anderen an mir sehen, ist meine Armut. Der Umstand der Armut definiert mich. Ich bin Armut. Das verwandelt aktive Menschen in immerwährende Opfer, passive Almosenempfänger, in Objekte öffentlicher Moralisierung, in gute und böse Arme, würdige und unwürdige. Niemals aber wird das sichtbar, was Marianne noch alles ist, was sie tut und was sie sein kann. Wie sie handelt, als Person, als Frau, als Mensch, als Mutter, als Organisatorin, als Musikerin.

Immer und immer wieder kommt das zum Vorschein. Wenn man Menschen auf Augenhöhe begegnet, ernst nimmt, ihnen Raum gibt, an ihre Möglichkeiten glaubt, dann können sie wachsen. Das ist wie eine Inventur der verborgenen Talente. Das ist etwas vom guten Leben. Denn es geht nicht nur darum, was Menschen haben, sondern immer auch darum, was sie tun und sein können. ■

(Aus: „Die Presse“ / Spectrum,  Print-Ausgabe, 25.02.2012)

 

 

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