Wir treffen uns im Sozialmarkt in der Neustiftgasse. Harald muss günstigst einkaufen, damit er über die Runden kommt. Die Teuerung spürt er an Haut und Knochen.
Lebensmittel ziehen im Preis nach oben. Die Energiekosten würden im zu-Hause-Modus der Coronazeit an sich schon in die Höhe fliegen, hätte die Inflation nicht noch ein Schäuferl draufgelegt. Die Mieten sind bereits seit Jahren ein Problem für mittlere Einkommen. Harald kann von einem mittleren Einkommen aber nur träumen, er muss zur Zeit zwischen Niedriglohnjob und Mindestsicherung pendeln. Viel Arbeit, wenig Geld, viel Stress, wenig Spielraum. Wir trinken einen Kaffee. Am Tisch liegen Zeitungen. Alle haben die Teuerung am Titelblatt. Harald blättert in zusammengehefteten Papieren, die eine Erhebung zur Krise aus Sicht von Armutsbetroffenen enthalten. Wir haben Betroffene gefragt, was jetzt ansteht. Was klar wird: Niemand ist arm allein wegen der Teuerung – die kommt dazu. Wenn das Wasser steigt, gehen jenen als erstes die Kräfte aus, die schon seit jeher strampeln mussten. Und wer auf Ressourcen zurückgreifen kann wie auf einen Rettungsring oder ein stabiles Boot, für den ist die steigende Flut besser bewältigbar. Soweit so klar. Findet auch Harald, der sich davor fürchtet, dass die Sozialhilfe noch mehr verschlechtert wird. In den Sozialmarkt gehen zu müssen, sei an sich schon zach, sagt er, aber dann zum Bittsteller bei Wohnen und Lebensunterhalt degradiert zu werden, das gehe ihm unter die Haut.
Was macht denn das Leben so teuer? Das Hauptproblem ist unleistbares Wohnen. Die Wohnkosten steigen seit Jahren massiv an, besonders in den größeren Städten. Je geringer die Haushaltseinkommen, desto höher der Anteil von Wohnen, Energie und Lebensmittel am Haushaltsbudget. Genau diese drei Posten sind von der Inflation aber am stärksten betroffen. „Wir sitzen alle im selben Boot“, heißt es mit Corona und jetzt auch in der Teuerung. Wir sitzen alle im selben Sturm, würde ich sagen, aber die Boote sind sehr unterschiedlich: da gibt es robuste Schiffe, kleine Nussschalen, starke Yachten, schmale Ruderboote.
Es sei wie ein “Hamsterrad im Kopf“, sagt Maria aus Niederösterreich, die mit ihren drei Kindern am sozialen Limit lebt. Den ganzen Tag quälen die Sorgen und das Getöse im Kopf: Miete, Heizkosten, Lebensmittel. Jetzt nur keine Schulmaterialien, die was kosten! Und nichts was kaputt wird! Und ja nicht krank werden! Und bitte nicht noch ein Problem im Betrieb! Hilfen gegen die Teuerung werden nur funktionieren, wenn die neue, schlechte „Sozialhilfe“ reformiert, das untere soziale Netz saniert wird. Niederösterreich hat ein besonders schlimmes Gesetz. Frauen, Männer und Kinder haben zu wenig zum Wohnen, zu wenig zum Leben. Um ihre Miete zu zahlen, müssen die Betroffenen das für den Lebensunterhalt Notwendigste aufbrauchen. Hungern für die Miete. Die Teuerung zeigt uns jetzt, wie wichtig eine gute Mindestsicherung wäre, statt einer schlechten Sozialhilfe, die Menschen in Existenznöten und Notsituationen nicht trägt.
Wenn der Sturm kommt, brauchen diejenigen am meisten Schutz, die schon bisher wenig Halt hatten. Den Belastungen ärmerer Haushalte könnte mit einem einkommensabhängigen Ökobonus begegnet werden. Im Rahmen der CO2-Steuer ist ein solches Instrument als „Klimabonus“ bereits angelegt. Der regionale Aspekt des Klimabonus sollte durch eine soziale Komponente ergänzt werden. Ein sozial gestaffelter Ökobonus würde möglichst unbürokratisch, österreichweit und barrierefrei die am meist betroffenen Haushalte erreichen. Statt der Erhöhung der Pendlerpauschale, die weder sozial noch ökologisch klug ist, wäre das Geld hier besser angelegt. Insgesamt aber braucht es mehr solch sozialstaatlicher Antworten auf die in der Krise wachsende Ungleichheit. Das sind Maßnahmen, auf die man ein Recht hat, die nachhaltig wirken und die mehr als zufällig die Betroffenen erreichen. Bisher wurde mit Pflastern herumgedoktert, wo eine große Operation notwendig wäre. Der Aufbau der ersten Sozialversicherungssysteme Ende der 1880er Jahre setzte den Start hin zu einer aktiven Sozialstaatspolitik. Die ersten Risken, die versucht wurden abzusichern, waren Krankheit und Alter, später dann auch Arbeitslosigkeit. In den 1980er und 90er Jahren trat neue soziale Risken hervor: Pflege, Behinderungen und Kinderversorgung, die in Gesellschaftsverträge gegossen wurden: Pflegegeld wurde eingeführt, Kinderbetreuung ausgebaut. Jetzt sind wir wieder mit neuen Risken konfrontiert: Prekarisierung der Arbeit, Digitalisierung und eben die Klimakrise samt der damit einhergehenden Energiewende. Die Klima- und Energiekrise ist ein Lebensrisiko ähnlich wie Krankheit oder Pflege, das wir auch sozialpolitisch in Angriff nehmen müssen. Da braucht es keine Gutscheinsysteme oder Almosenförderungen; bei einem gebrochenen Bein will ich keinen Gipsgutschein, sondern eine solidarische Krankenversicherung, jedenfalls eine universelle Leistung, die -egal ob arm oder reich- mich gut versorgt. Der Ökobonus, der an alle Haushalte geht, wäre so eine sozialstaatliche Antwort auf die Kosten der Klima- und Energiekrise, genauso wie das Pflegegeld eine Antwort auf die Risken des Alters ist oder die Krankenversicherung eine Antwort auf die Bedrohung durch einen Unfall darstellt.
„Ich habe das Glück, dass ich drei riesige Biotonnen in der Nähe von meiner Wohnung habe, und ich das aus dem Mist hole, das Essen, teilweise nicht alles. Ja, meistens geht es gut, aber manchmal geht es nicht gut. Ich habe viel mehr Erkrankungen, also Brechdurchfall oder so etwas“. Das erzählt eine ältere Frau in der Befragung. Harald zeigt mir die Stelle in der Studie. Arg, sagt er. Arg ist das.
Erschienen in : Der Standard, Kommentar der Anderen,“Teuerung: Ein Sturm – viele Boote“, 31.März 2022.