Gebrochene Seele

Wenn du dir den Fuß brichst und ins Krankenhaus fährst, dir dann dort gesagt wird, leider sind die Kontingente für Gips schon verbraucht, ja, dann bist du in der Welt der psychischen Versorgung angekommen.

Zum Glück gibt es in Österreich keine begrenzte Behandlung für Beinbrüche. Die psychotherapeutische Versorgung aber ist in Kontingenten organisiert, nicht nach dem Bedarf. Das heißt, es gibt eine gewisse Anzahl an Patienten, die maximal auf Kosten der Krankenkasse versorgt werden. Wenn es aus ist, ist es aus. Es gibt zu wenig leistbare Psychotherapieplätze. Die Versorgungslücke liegt bei der Leistbarkeit, aber auch bei den langen Wartezeiten und der Mangelversorgung in ländlichen Regionen. Es geht also um kassenfinanzierte Psychotherapie, um bessere regionale Versorgung und um diversere Formen der Angebote: nicht nur die freiberuflichen Therapeuten in ihrer Praxis gehören da finanziert, sondern auch Primärversorgungszentren, spezialisierte Therapiestellen oder mobile Teams. Es fehlt ja auch an professioneller psychologischer Hilfe und an kinderpsychiatrischer Versorgung.
    Die Welt-Unsicherheit drückt ganz schön auf die Seele. Corona wäre eh schon genug, Krieg in nächster Nähe kommt jetzt auch noch dazu. Die Häufigkeit depressiver Anzeichen, Angst und Schlafstörungen haben sich mittlerweile verfünf- bis verzehnfacht. Die meisten jungen Leute können das gut bewältigen, haben Ressourcen und Kraft, das zu schaffen. Andere aber sind verletzlicher, sind chronisch Druck und Enge ausgesetzt, haben weniger Reserven. Rund ein Fünftel der Mädchen und vierzehn Prozent der Burschen zwischen 14 und 20 Jahren leiden unter wiederkehrenden suizidalen Gedanken, das heißt sie denken täglich oder an mehr als der Hälfte der Woche an Selbsttötung. All das wird noch nachwirken, manches davon erst zeitverzögert auftreten.
     Verschärft wird die Situation der Kinder durch beengtes Wohnen und geringes Einkommen. „Die Welt dreht sich halt weiter und ich komme irgendwie nicht nach“, sagt eine Jugendliche in unserer Befragung einkommensschwacher Haushalte. Dominantes Thema waren da die psychischen Beeinträchtigungen, die sich aus einer Vielzahl von Gründen eingestellt hatten: weil das Geld hinten und vorne nicht reichte; weil Pläne zusammenbrachen und die Zukunft immer unsicherer wurde; weil die Existenzangst mehr und mehr nagte. Ein 15-Jähriger wollte sein Sparschwein opfern, wie er gehört hat, es geht der Mama so schlecht. Die Jugendlichen hatten unter den finanziellen Problemen ihrer Eltern psychisch mitzuleiden und kämpften mit dem Gefühl, an vielen Fronten eingeschränkt zu sein. Viele haben ihre Ausbildung abgebrochen, was sie „traurig“ gemacht hat. Es zeigt sich, wie massiv beengtes Wohnen auf Bildung und Gesundheit der Kinder ausstrahlt – und wie stark Depressionen und Einsamkeit mit Existenzangst verbunden sind. Gute Sozialpolitik ist gute Gesundheitsprävention. Das wissen wir aus allen Daten. Trotzdem: für Kinder, die jetzt unter psychischen Problemen leiden, braucht es leistbare Therapien.
      Und das funktioniert nur mit nachhaltig kassenfinanzierten Psychotherapieplätzen flächendeckend in Österreich. Die Wartelisten sind schon wieder lang, die Plätze rar. Die Kontingente müssen fallen und nach echtem Bedarf Therapien zugänglich sein. Weiters wird das nicht ohne bessere regionale Versorgung am Land gehen und nicht ohne niederschwelligere Formen der Angebote wie mobile Teams, Gemeinschaftspraxen oder spezialisierte Therapiezentren. So wie bei einem gebrochenen Bein kein Kontingent für Gips vorgesehen ist, darf es ein solches auch bei einer gebrochenen Seele nicht geben.


Erschienen in: Die Presse, Gastkommentar am 27.06.2022

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