Isabella war ein süßes Baby und der ganze Stolz ihrer Eltern Romana und Markus. Das Mädchen entwickelte sich gut, bis plötzlich manches an ihrem Wachstum stoppte. Die fehlende Lautsprache und auch der Umstand, dass Isabella ihre Hände nicht sinnvoll einsetzen konnte, beunruhigte die Eltern. 18 Monate später veränderte sich die Welt für Familie Malzer dann von Grund auf. Die Diagnose: ein Schreckgespenst in vier Buchstaben – das Rett-Syndrom.Für Romana war es von Anfang an klar, dass sie ihrer Tochter gute Kommunikation ermöglichen wollte, auch wenn Isabella nie selbst reden wird können. Das Mädchen lernte mit Hilfe von Tastern zu agieren, indem sie z.B. den Mixer selbst einschalten konnte, wenn Mama Romana einen Kuchen backte. Auch das Spielen am Computer machte ihr viel Freude. Heute ist Isabella 14 Jahre alt und bedient den Computer mit einer Kopfsteuerung. Damit kann sie ihre Familie und auch die Freunde in der Schule wissen lassen, was sie bewegt, was ihre eine Freude macht und was sie nicht mag.
„Wir lieben unsere Tochter, so wie sie ist, aber wir haben nicht um ein behindertes Kind gebeten. Wenn wir Hilfsmittel für unsere Tochter beantragen und uns für unsere Tochter einsetzen, gibt man uns immer wieder das Gefühl, als ob wir etwas wollen, was wir gar nicht brauchen“, sagt Romana. Als betroffene Mutter fügt sie hinzu: „Die Beantragung ist wie ein undurchdringlicher Dschungel und man hat viele Fragen zu klären, bevor man am Ziel ist: Welches Formular für welches Hilfsmittel genau? Und bei welcher Stelle reiche ich ein? In welcher Abteilung? Bei welchem Sachbearbeiter? Und ist jetzt überhaupt der richtige Förderzeitpunkt? Man wird aufgefordert bei mehreren Stellen einzureichen – aber in welcher Reihenfolge?“
Hilfsmittel, die im Hilfsmittelkatalog der Krankenkassen vermerkt sind, werden von den Sozialversicherungsträgern für die Patienten oft nur teilweise finanziert. Werden Hilfsmittel nicht von der Sozialversicherung getragen, kann eine Kostenübernahme über die Behindertenhilfe der Länder beantragt werden. Die tatsächlichen Wege zu einer Finanzierung zu kommen, sind sehr kompliziert, aufgesplittet und bürokratisch. Ein Rechtsanspruch auf Finanzierung fehlt. Die Betroffenen müssen sich zudem am offiziellen Hilfsmittelkatalog orientieren, der aus dem Jahre 1994 stammt. Und damit die aktuelle technologische Entwicklung überhaupt nicht mehr abbildet.
„Bei Anträgen muss immer genau angegeben werden, welche Stelle wie viel zahlt. In der Praxis ist es dann häufig so, dass eine Stelle erst ihre Zusage gibt, wenn die andere Stelle entschieden hat. Es verstreichen kostbare Wochen bis eine Entscheidung gefällt ist“, erzählt Romana von ihren Erfahrungen. Ist die Förderhöhe erst einmal geklärt, haben die Betroffenen eine weitere Hürde zu nehmen: in vielen Fällen muss das Hilfsmittel von den Betroffenen vorfinanziert werden, denn die Stelle überweist erst, wenn die bezahlte Rechnung eingereicht wird. Bei Kommunikations-Hilfsmitteln wie einer Augensteuerung, die bis zu 15.000 Euro kosten kann, ist das für Familien, die ohnedies durch die Beeinträchtigung ihres Familienmitgliedes noch andere Ausgaben zu tragen haben, oft schier unmöglich. „Ich kenne Beispiele, wo alleinerziehende Mütter alles in Bewegung setzen, um einen Kredit zu bekommen, damit sie das wichtige Kommunikationshilfsmittel für ihr Kind vorfinanzieren können – das ist auch eine große psychische Belastung für Familien, die ohnedies schon belastet sind“, berichtet Romana.
Aus der Vernetzung mit anderen Betroffenen weiß Romana auch noch von einem ganz anderen Problem zu berichten. „Manchmal scheitert die Beantragung einfach daran, dass die Betroffenen keinen Zugang zu Computer und Drucker haben.“ Besonders herausfordernd ist der Prozess für Menschen mit Migrationshintergrund, die auf Grund der Sprachbarriere noch eine zusätzliche Hürde nehmen müssen. Die komplexen Vorgänge sind schon für Menschen, die Deutsch als ihre Muttersprache haben, eine Herausforderung.
Besonders schwierig wird alles, wenn das Geld fehlt. In den meisten Bundesländern kommt der Mindestsicherung auch die Rolle zu, ein finanzielles Existenzminimum für Menschen mit erheblicher Behinderung, wenn sie in Privathaushalten leben, sicherzustellen. Auf deren besondere Bedürfnisse – wie z.B. ein gegenüber anderen Personen erhöhter Regelbedarf – hat die Mindestsicherung derzeit keine Antwort. Menschen mit Beeinträchtigungen haben höhere Lebenshaltungskosten, erhalten aber im Rahmen der Mindestsicherung in der Regel keine zusätzlichen Hilfestellungen. Der Wechsel von der alten Sozialhilfe zur jetzigen Mindestsicherung hat zwar alle in die Krankenversicherung einbezogen, vertröstet jetzt aber Patienten bei Kosten wie Heilbehelfen, die nicht übernommen werden, auf die Sozialfonds der Krankenkassen. Personen in prekärer finanzieller Lage können sich auf diese Unterstützungsfonds nicht verlassen. Diese Fonds helfen manchmal, manchmal auch nicht, die Vergabe ist intransparent und im Einzelfall nicht nachvollziehbar.
Leistbare und verfügbare therapeutische Hilfen sind aber ganz entscheidend für das gute Aufwachsen von Kindern, die gesundheitliche Probleme haben. Der neunjährige Stefan wurde auf Anraten der Zahnärztin zur Psychotherapie überwiesen. Da er tagsüber häufig mit den Zähnen knirscht. Weil bereits Zahnschädigungen feststellbar sind. Über das Knirschen machen sich auch schon seine Mitschüler lustig. Hey, hast Sand im Kopf?
Gegen das Knirschen scheint kein Kraut gewachsen zu sein. So machen sich seine Eltern mit ihm auf zur ersten Stunde. In der Psychotherapie ist Spannungsregulation das zentrale Thema. Stefan lernt schrittweise, seinen Körper wahrzunehmen. Wo ist Anspannung wichtig und wo Entspannung? In welchen Situationen steigt die Aufregung? Womit kann ich mich am besten loslassen? Die Mutter arbeitet mit und beobachtet ebenfalls, wie Stefan mit Spannungen umgeht. Sie bietet ihm in druckvollen Situationen Beruhigung an. Sie macht ihm z.B. etwas zu trinken und verschafft ihm eine Pause, wenn sie merkt, dass seine Spannung hoch wird, oder sie hält ihm eine Zeit lang seine kleinen Geschwister vom Leib. So lernt Stefan Schritt für Schritt, besser mit Druck umzugehen.
Kinder brauchen Hilfe, wenn sie mit ihrem Alltag und mit sich selbst nicht mehr zu Recht kommen. Am häufigsten treten im psychischen Bereich Angstzustände auf, gefolgt von depressiven Leiden. Bei Burschen gibt es mehr Selbstverletzungen und Probleme mit Impulskontrolle, Mädchen sind von Angst häufiger betroffen, besonders gefährdet mit Essstörungen. 14% der Kinder in Österreich brauchen therapeutische Hilfe bei Depression, Angstzuständen, Trauer oder traumatischen Erlebnissen. Kostenlose Psychotherapie für betroffene Kinder gibt es aber viel zu wenig. Besonders schwierig ist das außerhalb der Ballungszentren am Land. Es macht in der Jugendhilfe auch einen Unterschied, wo ein Kind oder Jugendlicher lebt. Die Hilfen unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland. Das eine Mädchen bekommt eine Psychotherapie bezahlt. Das andere aus einem angrenzenden Bundesland hat Pech und bekommt keine.
In der Kindergesundheit geht es auch um mehr als Psychotherapie: Physio- und Ergotherapie, der Ausbau der frühen Hilfen für Eltern und Baby, ausreichend Kinderfachärzte und Hebammen, Unterstützung für Kinder mit psychisch kranken Eltern – all das wäre hilfreich. 70.000 Kinder in Österreich erhalten nicht die für sie notwendigen Therapien. Es gibt zu wenig kostenfreie Plätze oder elendslange Wartezeiten.
Für Stefan war es eine gute Entscheidung. Das Knirschen plagt ihn nicht mehr. Mit Anspannungen wird er umgehen lernen.
Erschienen in: Die Furche, 30.08.2018