Ein Mann fiel vom Himmel. Direkt im Feld neben der Fabrik schlug er auf. In der Fabrik arbeitet eine junge Frau als Nachtwächterin. Die Tage des Unternehmens, das Verpackungskartons herstellt, sind gezählt, die meisten Mitarbeiter bereits gegangen. Unruhe entsteht als das Gerücht aufkommt, am Firmengelände treibe sich nächstens ein Wolf herum. Gianna Molinaria entwirft in ihrer Parabel „Hier ist noch alles möglich“ eine Welt, in der nichts mehr gewiss ist. Nicht mal der Name. Oder gerade nicht der Name. Der Mann, der vom Himmel fiel, hatte eine Jeans an, ein T-Shirt und eine Halskette um. Das ist alles, was man von ihm weiß. Das Flugzeug befand sich in 800 Metern Höhe, als der Mann aus dem Fahrwerk fiel. Er starb bereits während des Fluges, nachdem er in Afrika in den Fahrwerkschacht des Flugzeugs geklettert war. Die Temperatur sinkt in 8000 Metern Höhe auf minus 60 Grad, die Luft wird immer dünner, der Körper bekommt nicht mehr genug Sauerstoff. Als das Flugzeug zur Landung ansetzt, das Hauptfahrwerk ausgefahren wird, fällt er erfroren heraus. Ein Kollege der Nachtwächterin, der drüben am Flughafen beim Bodenpersonal arbeitet, hat das Ereignis in einer Mappe dokumentiert. Die junge Frau sammelt weiter nach Gewissheiten. Sie nimmt ein Legomännchen, das sie in der Ritze zwischen Boden und Wand findet, und lässt es vom Tisch in der Fabrik fallen. Die Tischhöhe beträgt 76cm. Mit dem Durchschnittswert für die Fallbeschleunigung auf der Erde ergibt das 0,3936 Sekunden Fall von der Tischkante bis zum Boden. Molinari verwebt ihre Erzählung mit Berechnungen, Dokumenten, Bildern und Zeichnungen. Sie verstärken die Suche nach dem, was wirklich ist, die Frage, mit welchem Namen wir gerufen werden, die Beobachtung, wo wir Boden unter den Füssen spüren.
Auf die Suche nach der möglichen Wirklichkeit begibt sich auch Timur Vermes mit seinem satirisch-dystopischen Zukunftsroman „Die Hungrigen und die Satten.“ „Ich hasse die Wirklichkeit. Leider ist sie der einzige Ort, an dem man ein anständiges Steak bekommt“, lässt er Woody Allen zu Beginn des Buches sagen. Die Handlung spielt irgendwann in Kürze, nicht weit von jetzt, aber doch ein paar Jahre in der Zukunft. Die deutsche Starmoderatorin Nadeche Hackenbusch, Spezialistin für Herz-Schmerz-TV und Sozialporno aller Art, besucht ein Flüchtlingslager in Nordafrika, um ein neues Fernsehformat auszutesten: „Engel im Elend“. Dafür werden Flüchtlinge gecastet, Mode verkauft und Rollenskripte angelegt. Das inszenierte Elend soll Nadeche zum Infotainment-Superstar machen, den Sender viele Werbeminuten und insgesamt dem Zuseher ein gutes Gefühl bescheren. “Wenn hier jemand Licht in die Finsternis bringt, dann ist das Nadeche Hackenbusch. Und das bedeutet, dass es da finster sein muss“, herrscht der Produzent die Regieassistentin vor Ort an, als sie zu „fröhliche“ Typen in die Sendung holen will. Dann läuft alles ein wenig aus dem Ruder. Nadeche verliebt sich in Lionel, einen der gecasteten Flüchtlinge. Die große Aufmerksamkeit des Fernsehpublikums nehmen er und andere zum Anlass nach Europa aufzubrechen. Über 150.000 ziehen in Echtzeit nach Norden, begleitet vom Hackenbusch-TV als riesiger Quotenhit.
Der Text quält sich ab da ordentlich dahin. Sprachlich dicht und überzeugend wird es meist dann, wenn Hackenbuschs Assistentin im Lifestyle Magazin einen Artikel über ihre Chefin verfasst. „Auch in Afrika gewinnt die bezaubernde Art wie sie mit ganz normalen Menschen spricht, die Herzen“, usw. Da trifft Vermes den Ton. Nadeche Hakenbusch ist auch die Figur im Buch, die lebendig wird. Viele der anderen handelnden Personen wirken eher wie im Holzschnitt, bleiben blass und blutleer. Eine Dystopie, noch dazu sie satirisch und skuril anzulegen, ist schon eine große Herausforderung. Die aktuelle Großmeisterin Margarete Atwood oder auch das gefälligere „Panem“ spielen da in einer deutlich anderen Liga. Der Autor hat sich selbst bei seinem ersten Roman über Adolf Hitler gewundert: „Ich habe keinen Skandal erwartet, aber zumindest, dass mir einer auf die Finger schaut. Aber es hat mir keiner auf die Finger geschaut.“ Das sollte man jetzt nicht versäumen. Die „Hungrigen und die Satten“ ist eine literarische Kost, die die Teller füllt, aber eigentlich nach nicht viel schmeckt.
Die Kost in der Fabrikskantine wird schlechter und schlechter. Es ist ja auch bald keiner mehr da, für den der Koch kochen kann. Da erzählt er, dass er einen Wolf gesehen hat. Am Farbriksgelände bei den Essensresten. Niemand sonst hat bisher etwas bemerkt. Die Nachtwächterin soll eine Fallgrube ausheben. „Es muss auch nicht ein Wolf sein, es reichen Haare, Fußspuren, so was eben.“ fordert der Koch Erfolge bei der Suche ein. In der Nacht, wenn es dunkel geworden ist, hebt die junge Frau auf ihren Rundgängen die Grube aus, in die der Wolf fallen soll: „Ich fürchte mich nicht vor dem Wolf, ich fürchte mich manchmal vor der Dunkelheit“. Molinari treibt die Parabel hier auf die Spitze. Die Sache geht nämlich nach hinten los. Der Koch geht an der Mauer entlang und schaut nicht auf den Boden. Und da schnappt die Falle zu. Die Zähne des Eisens graben sich in sein Bein. Als der Koch wieder aus dem Spital entlassen wird und gemeinsam mit der Nachtwächterin in der leeren Fabrikskantine sitzt, sagt er: „Verdammter Wolf“. „Ein Wolfsbiss wäre weniger schlimm gewesen als das Tellereisen“, antwortet die Nachtwächterin. Jedenfalls kann das ja nicht für nichts gewesen sein. Die Wunde und all die Schmerzen. „Für den Koch muss es jetzt dringend einen Wolf geben“. Das sind präzise Beobachtungen. Die untergehende Fabrik, keine Leute mehr zu bekochen, die Schmerzen des Falleisens – all das ist nicht zu ertragen ohne Wolf. Molinaris Prosa entwickelt einen starken Sog, der den Leser in diese besondere Welt ohne Boden hineinzieht. Der Boden und das Bodenlose ist immer präsent: Der Mann vom Himmel, das Legomännchen, das Bodenpersonal am Flughafen, die Fallgrube im Hof. Man kann einiges auf den Boden bringen, man kann aber auch den Boden unter den Füssen verlieren. Nichts ist gewiss, Aber noch alles möglich. Ein Mann, der nicht vom Himmel gefallen wäre, hat eine Familie oder keine, er hätte eine Ausbildung machen, durch Straßen laufen, zum Bäcker gehen, Geld abheben, Wäsche waschen, Musik hören, Menschen treffen können. All das und noch viel mehr zählt die Nachtwächterin auf. All das wäre möglich. Einen Namen hätte er dann auch gehabt.
Die junge Nachtwächterin geht auf dem nahegelegenen Friedhof die Grabreihen entlang. Auf den Steinen sieht sie das Geburtsdatum und das Sterbedatum stehen, dazwischen für die Lebensjahre ein Strich. „Ein Strich für ein ganzes Leben“. Dort ist der Mann, der vom Himmel fiel, begraben worden. „Am Ende der Reihe finde ich sein Grab. Auf der grünen Tafel fehlt das Geburtsdatum. Es fehlt auch der Strich.“
Erschienen in: Die Presse, Spectrum, „Engel im Elend“ 14.09.2018