Gesichtsverlust

„Es ist einfach demütigend. Am Magistrat hat eine Sachbearbeiterin zu mir gesagt: ‚Warum suchen Sie sich keinen Mann, der Sie erhält?“ Das erzählt Christine, die von vielen Berg- und Talfahrten aus ihrem Leben berichten kann.

Wir wissen, jeder Dritte holt die Mindestsicherung nicht ab.  Einer der Gründe: Soziale Scham. Eine Bedrohung, die leicht in der Luft, aber schwer auf Körper und Geist liegt. Soziale Scham ist nicht bloß ein harmloses persönliches Gefühl. Beschämung ist eine soziale Waffe. Der jeweils Mächtigeren. Ich werde zum Objekt des Blickes anderer gemacht. Andere bestimmen wie ich mich zu sehen habe. Das ist ein massiver Eingriff in die Integrität einer Person. Betroffene fürchten in diesen Augenblicken ihr Gesicht zu verlieren und wissen ihr Ansehen bedroht. Man möchte im Erdboden versinken. Unsichtbar sein. Scham ist die große Begleiterin von Armut und mit der Frage des Blickes direkt verbunden. Adam Smith hat das bereits 1776 in seinem Klassiker „Der Reichtum der Nationen“ festgehalten: Arm ist, „being unable to appear in public without shame“. Es geht um die Freiheit, über die eigene Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verfügen zu können. Beschämung ist eine Frage des Blickes und des Ansehens. Person bedeutet altgriechisch „Angesicht“. Für den Philosophen Philipp Pettit heißt deswegen auch „gerechte Freiheit“ anderen auf Augenhöhe zu begegnen. Er schlägt hier den „Blickwechsel Test“ vor: sich ohne Grund zur Angst oder Ergebenheit in die Augen schauen zu können.

Scham kann bei sozial Benachteiligten auch eine brüchige Form des Selbstschutzes sein. Menschen am finanziellen Rand versuchen, solange es ihnen möglich ist, die Normalität nach außen aufrecht zu erhalten. Die Kinder sollen mit den anderen mitkönnen, die Nachbarn brauchen sich nicht den Mund zu zerreißen. Es ist eine Form der Selbstachtung, ein Selbstschutz, das Gesicht vor den anderen nicht zu verlieren. Wenn die Scham weg ist, bricht der Mensch. Bei Wohnungslosen ist es ein großer Schritt, wenn sie sich wieder pflegen, duschen, auf ihr Äußeres schauen können.

Beschämung hält Menschen klein. Sie rechtfertigt die Bloßstellung und Demütigung als von den Beschämten selbst verschuldet. Das ist das Tückische daran. „Soziale Scham fordert zu ihrer eigenen Moralisierung auf, um eine Erklärung für den Sinn der Verletzung zu ergründen, die man zuvor erfahren hat“, so der Soziologe Sighard Neckel. Damit der Akt der Beschämung seinen Zweck erreicht, muss für den beschämenden Mangel die Verantwortlichkeit auf die beschämte Person selbst übertragen werden. „Meine Scham ist ein Geständnis“ formulierte Jean Paul Sartre. Er beschrieb, dass Beschämung darauf beruhe, den anderen zum Objekt der eigenen Freiheit zu machen, der damit im gleichen Maße Freiheit und Autonomie verliert.

„Es ist auch die ganze existenzielle Bedrohung, nie wissen, was entscheidet die Regierung, mich nicht mehr wehren können, weil ich nicht gesund werde, ich bin da komplett angewiesen“, das erzählt Christine angesichts der aktuellen Sozialkürzungen im untersten Netz. Wäre die Inanspruchnahme der Mindestsicherung „vollständig“, würde die Armutsgefährdung in Österreich um fast 1% sinken, das hieße 60.000 Menschen weniger in Armut. Die Studie des Europäischen Zentrums für Sozialforschung zeigt auch, was den Unterschied macht, was die Inanspruchnahme erhöht:  Rechtssicherheit, Verfahrensqualität, Anonymität, bürgerfreundlicher Vollzug, Verständlichkeit, Information und De-Stigmatisierung der Leistung.  Die Einführung der Mindestsicherung hat zu einem deutlichen Rückgang der Nichtinanspruchnahme geführt. So haben 2009 114.000 Haushalte (51%) trotz Berechtigung Sozialhilfe nicht in Anspruch genommen. Mit Einführung der Mindestsicherung sank dieser Wert bis 2015 auf 73.000 (30%).

Achtung! Bedrohung durch Beschämung

Auf einem Dorfplatz, spät nachmittags. Eine Kinderschar sitzt am Boden über Papier gebeugt, rechnet, zeichnet und schreibt. Zwei Frauen haben den Kindern, die sowohl aus einer höheren wie aus einer niederen indischen Kaste kommen, Aufgaben vorgelegt. Das Kastensystem ist trotz gesetzlicher Verbote noch immer kulturell stark wirksam. Später werden die beiden Weltbank-Ökonominnen Karla Hoff und Priyanka Pandey die Ergebnisse dieses ungewöhnlichen Feldversuches veröffentlichen. In einem ersten Durchgang schnitten die Kinder aus den niederen Kasten leicht besser ab als die aus den höheren. Niemand wusste, wer welcher Kaste angehört. Dann wiederholte man das Experiment. Zuerst mussten die Kinder vortreten, sich mit Namen, Dorf und Kastenzugehörigkeit vorstellen, dann durften sie die Aufgaben lösen. Das Ergebnis: Die Leistungen der Kinder aus den unteren Kasten waren deutlich schlechter. Dieser Effekt wurde in den USA und in Europa bestätigt. Wenn man eine Gruppe verletzlich macht mit dem Blick der Verachtung, dann bleibt das nicht ohne Wirkung. Wer damit rechnet, als unterlegen zu gelten, bringt schlechtere Leistungen. »Stereotype threat« wird dieser Effekt genannt, Bedrohung durch Beschämung. Umgedreht heißt das, dass die besten Entwicklungsvoraussetzungen in einem anerkennenden Umfeld zu finden sind, dort wo wir an unseren Erfolg glauben dürfen. Zukunft gibt es, wo wir an unsere Fähigkeiten glauben dürfen. Weil andere an uns glauben. Wo ich meinem Können traue, dort gibt es auch welche, die mir etwas zu-trauen. Statusangst und mangelnde Achtung sind auch Lern- und Leistungshemmer.

Lebensmittel sind etwas zum Essen. Es gibt aber auch Lebensmittel, die wir nicht essen können und trotzdem zum Leben brauchen. Besonders Menschen, die es schwer haben, sind darauf angewiesen. Die Resilienzforschung, die sich damit beschäftigt, was Menschen „widerstandsfähig“ macht, gerade in schwierigen und belastenden Situationen, hat eine Reihe von solch stärkenden Faktoren gefunden.

Es sind vor allem drei „Lebens-Mittel“, die stärken: Erstens ist da Freundschaft. Soziale Netze, tragfähige Beziehungen stärken. Das Gegenteil schwächt: Einsamkeit und Isolation.

Das zweite Lebensmittel ist Selbstwirksamkeit. Das meint, dass ich das Steuerrad für mein eigenes Leben in Händen halte. Das Gegenteil davon ist Ohnmacht; sie schwächt. Kann man selber noch irgendetwas bewirken, ergibt Handeln einen Sinn? Wenn wir von Prekarisierung sprechen, dann heißt „prekär“ ja wörtlich nicht nur „unsicher“, sondern lateinisch eigentlich „auf Widerruf gewährt“, „auf Bitten erlangt“. Da steckt der geringe Umfang an Kontrolle und Handlungsspielräumen bereits im Begriff.

Das dritte Lebensmittel ist Anerkennung. Achtung und Respekt stärken. Das Gegenteil ist Beschämung. Das wirkt wie Gift. Sie strengen sich voll an, und kriegen nichts heraus. Der belastende Alltag am finanziellen Limit bringt keine „Belohnungen“ wie besseres Einkommen, Anerkennung, Unterstützung oder sozialen Aufstieg. Eher im Gegenteil, der aktuelle Status droht stets verlustig zu gehen. Dieser schlechte Stress, der in einer solchen „Gratifikationskrisen“ entsteht, wirkt besonders dort, wo man nichts verdient und nichts zu reden hat. Dauern diese Ohnmachtserfahrungen an, lernen wir Hilflosigkeit: Lass mich erleben, dass ich nichts bewirken kann. Wer feststellt, dass er trotz aller Anstrengungen nichts erreichen kann, der wird früher oder später resignieren und aufgeben. Der Giftcocktail besteht aus drei Zutaten: aus hoher Anforderung, niedriger Kontrolle und niedriger Anerkennung. Das ist wie Vollgas bei angezogener Handbremse fahren. Zentral ist immer die Verletzung sozialer Gegenseitigkeit.

Diese „Lebensmittel“ sind nicht nur individuell zu deuten, sondern sie sind auch Anfragen an unsere Institutionen: Schule, Sozialamt, AMS, Gesundheitseinrichtung etc. Sind dort die stärkenden Lebensmittel erfahrbar – oder werden Menschen an diesen Orten weiter geschwächt?

Demütigung geht unter die Haut

Ökonomische Benachteiligung führt zu erhöhtem emotionalen Stressaufkommen. Abwertung kränkt die Seele und den Körper. Demütigung geht unter die Haut: Die stärksten Wirkungen äußern sich in erhöhtem Stress und höheren Raten psychischer Erkrankungen. Die stärksten Zusammenhänge finden sich mit Bluthochdruck und Herzerkrankungen. Beschämung schneidet ins Herz. Je öfter, je länger und je stärker die Verachtung, desto schädlicher für die Gesundheit. Die Bedrohung des eigenen Ansehens ist eine starke negative Stressquelle. Dauert der schlechte Stress an, entgleist der Cortisol- und der Adrenalin-Spiegel. Da gibt es einerseits die schnelle Achse über die Nervenbahnen bis zum Nebennierenmark, das mit dem Hormon Adrenalin verbunden ist. Und dann gibt es die langsamere Bahn über den Hypothalamus im Gehirn bis zur Nebennierenrinde, das mit dem Kortisol verquickt ist. Der entgleiste Kortisolhaushalt schwächt das Immunsystem, erhöht Herz-Kreislauferkrankungen und Depressionen. Gefühle wie Ohnmacht, Scham oder Hilflosigkeit haben unmittelbare körperliche Folgen. Andauernder schlechter Stress geht unter die Haut.

Anerkennung müsste ja eigentlich unbegrenzt vorhanden sein. Ist sie aber nicht, Sie wird wie Geld zu einem knappen Gut, das sich nach dem sozialen Status und der sozialen Hierarchie in einer Gesellschaft verteilt.

Parlament der Unsichtbaren

Der Blickwinkel entscheidet. Wer bleibt unsichtbar, wer bekommt die Deutungsmacht?

Der Demokratietheoretiker Pierre Rosanvallon argumentiert, dass „nicht wahrgenommen“ werden „ausgeschlossen sein“ bedeutet. Deshalb sei heute die Sehnsucht nach einer gerechten Gesellschaft verbunden mit dem Wunsch nach Anerkennung. Und genau hier müsse eine Erneuerung der Demokratie ansetzen: Bei jenen, deren Leben im Dunkeln bleibt, die nicht repräsentiert werden, die nicht sichtbar sind. In Paris gründete Rosanvallon ein „Parlament der Unsichtbaren“, das dazu dient, all die Geschichten und Lebensbiographien von Menschen zu erzählen, die sonst im Dunkeln geblieben wären: Von Jugendlichen, die es schwer haben, von Arbeiterinnen im Niedriglohnsektor, vom alten Mann am Land. Die Unsichtbarkeit weist auf zwei Phänomene, einerseits auf das Vergessen, die Zurückweisung und die Vernachlässigung, andererseits auf die Unlesbarkeit der Verhältnisse. Für viele ist es schwierig geworden, die Gesellschaft noch zu lesen und sich selbst mittendrin. Das Projekt will dem Bedürfnis nach Erzählung der „gewöhnlichen“ Lebensgeschichten, dem Anhören der ungehörten Stimmen und der Beachtung der alltäglichen Sehnsüchte nachgehen. „Es untergräbt die Demokratie, wenn die vielen leisen Stimmen ungehört bleiben, die ganz gewöhnlichen Existenzen vernachlässigt und die scheinbar banalen Lebensläufe missachtet werden“

Wer das Wort ergreift, hat etwas zu erzählen. Wer jemand ist oder war, können wir nur erfahren, wenn wir die Geschichte hören, deren Held er oder sie ist. Das Wort zu ergreifen, heißt nicht für-sprechen, sondern selbst sprechen. Wenn Ausgeschlossene die eigene Lebenswelt sichtbar machen, schaffen sie einen Ort, von dem aus sie sprechen können. Der Vorhang öffnet sich zu einer Bühne, auf der die eigene Geschichte eine eigene Deutung – und zugleich Bedeutung – erfährt. Das Unspektakuläre des eigenen Lebens bekommt eine Bühne und wird besonders. Die das Wort ergreifen, können zur Sprache bringen, wer sie sind – und wer sie sein können.

Mit der Entscheidung, im Armen keine verachtenswerte oder zu bemitleidende Person zu sehen, hat der Soziologe Georg Simmel vor hundert Jahren einen entscheidenden Fortschritt im Reden und Denken über arme Leute erzielt. „Jedes Verteilungssystem, das Personen voraussetzt, die als arm definiert sind, tendiert dazu, Einfluss auf die Selbstachtung und Fremdeinschätzung der abhängigen Person zu nehmen“, konstatiert Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen, Ökonom und Ethiker. Wenn Gnaden- und Almosenblick beherrschend ist, verwandelt es Bürger mit sozialen Rechten in bittstellende Untertanen. Christine sagt es so: „Dass ich jetzt nicht mehr wo hingehen muss für eine Beihilfe, für eine Unterstützung, nicht mehr Betteln oder Ansuchen zu müssen, das ist sehr viel wert. Das stärkt das Selbstwertgefühl unheimlich.“

Erschienen in der Wochenzeitung Die Furche, 23.01.2020. „Gesichtsverlust

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