Auf Augenhöhe.

Freiheit als Nichtbeherrschung.
Nora lebt mit ihrem Ehemann Torvald im gemeinsamen Eigenheim. Torvald behandelt Nora wie ein Püppchen, mit dem er spielen kann, er nennt sie „Eichkätzchen“ und „Singlerche“ und nimmt sie genauso wenig ernst wie früher ihr Vater.

Nora lebt ihr Leben, muss aber stets ihren Mann um Erlaubnis fragen. Der Philosoph Philipp Pettit erläutert an Ibsens berühmten Theaterstück, was er „Freiheit als Nichtbeherrschung“ nennt. „Um eine freie Person zu sein, muss man über die Fähigkeit verfügen, bestimmte wesentliche Entscheidungen zu treffen, ohne die Erlaubnis eines anderen einholen zu müssen.“ Gerechte Freiheit heißt anderen auf Augenhöhe begegnen zu können und den Einfluss anderer Menschen nicht fürchten zu müssen. Nora braucht um „frei“ zu sein, nicht bloß das Fehlen von Einmischung, sondern auch das Fehlen von Beherrschung.
Wenn man mit Nachsicht und Wohlwollen behandelt wird, dann ist das natürlich besser als mit Bösartigkeit konfrontiert zu werden. Wenn man dann schlechter Behandlung entgeht, „kann man sich aber nur zu einem glücklichen Schicksal gratulieren und nicht zu Freiheit“ (Pettit). Der Sklave, der sich selbst dazu gratuliert, wie frei ihn doch sein glückliches Schicksal oder sein scharfer Verstand mache, ist in antiken römischen Komödien nur eines: eine Witzfigur.
Noras Zwangslage kennen wir aus Situationen, wo Menschen von Lust und Laune eines anderen abhängen: das kann passieren auf dem Sozialamt, in der Schule, in der Arbeit, am AMS, in einem Heim. Überall dort, wo Machtverhältnisse bestehen, wo wir auf das Wohlwollen des Anderen angewiesen sind, der Gnade anderer ausgeliefert. „Es ist auch die ganze existenzielle Bedrohung, diese strukturelle Gewalt: nie wissen, was entscheidet die Regierung, mich nicht mehr wehren können, weil ich nicht gesund werde und auch nicht mehr erwerbsfähig – ich bin da komplett angewiesen –  und das ist existenziell bedrohlich.“, das erzählt eine ältere Frau in prekären Verhältnissen: „Weil das nehmen sie weg, das nehmen sie weg, aber wie lebe ich noch? Wie zahle ich meine Miete, was esse ich noch? Krieg ich noch ein paar Stunden Assistenz, dass ich überleben kann? Es fühlt sich alles nur mehr existenziell an.“ Solange beispielsweise Arme und Kranke nicht hinreichend abgesichert sind, werden sie sich in einer Lage befinden, in der sie auf das Wohlwollen der Mächtigeren angewiesen sind. Das weist uns auf den Wert sozialer und politischer Regelungen hin, die beispielsweise in Noras Milieu noch nicht existiert haben.

Gerechtigkeit ist Freiheit, Freiheit ist Gerechtigkeit. Fasten ist nur dann Fasten, wenn die Möglichkeit etwas zu essen offen steht, sonst sind wir beim Hungern. Der Zustand der Unterernährung mag der gleiche sein, aber die Möglichkeiten, die die Personen haben, unterscheiden sich. Den Unterschied zwischen Hungern und Fasten macht die Freiheit. Wenn zwei Personen das Gleiche erreicht oder verwirklicht haben, kann das für eine Person etwas ganz anderes bedeuten als für die andere. Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen erklärt dies anhand eines Beispiels, in dem eine Person die Wahl hat, den Sonntag zu Hause zu verbringen oder auszugehen. Die Person entscheidet sich zu Hause zu bleiben. Muskulöse Schlägertypen tauchen auf und verhindern, dass die Person das Haus verlässt. Wenn wir allein den Wunsch der Person betrachten, so ändern die Schlägertypen nichts an der Verwirklichung des Wunsches. Die Person wollte ja sowieso zu Hause bleiben. Allerdings hat sie jetzt auch keine Wahl mehr – ihre Entscheidungsfreiheit wurde ihr genommen. Der spontanen Entscheidung zu einem Spaziergang kann sie jetzt nicht mehr nachgehen.
Armut ist nicht nur ein Mangel an Gütern, sondern immer auch an Möglichkeiten. Armut ist einer der existenziellsten Formen von Freiheitsverlust. Freiheit zum Beispiel über Raum zu verfügen: aus einer runtergekommen Wohnung wegziehen können oder eben nicht. Oder sich frei ohne Scham in der Öffentlichkeit zu zeigen oder nicht. In Armut kann man sein Gesicht vor anderen verlieren. Oder die Verfügbarkeit über Zeit: Frauen mit Kindern in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen , die nicht entscheiden können, wann und wie lange sie arbeiten und wann eben nicht. Oder die Freiheit sich zu erholen. Die sogenannte Managerkrankheit mit Bluthochdruck und Infarktrisiko tritt bei Armen dreimal so häufig auf wie bei den Managern selbst. Nicht weil die Manager weniger Stress haben, sondern weil sie die Freiheit haben, den Stress zu unterbrechen: mit einem Flug nach Paris oder einem guten Abendessen.

„Welche Ressourcen sind denn im Einzelnen notwendig, um eine gegebene Option realisieren zu können?“, frägt Pettit. Zur Realisierung einer Option sind Ressourcen erforderlich, müssen Ressourcen zur Verfügung stehen. „Um bei einer Wahl die Freiheit zwischen verschiedenen Optionen zu haben, ist als erstes die Abwesenheit von Einmischung notwendig und das Vorhandensein von Fähigkeiten, die es einen ermöglichen, die Option zu verwirklichen, die man tatsächlich bevorzugt. Man muss den Raum und die Ressourcen haben, um so wählen zu können, wie man nun einmal wählen will.“ Das zeigt uns: Von Freiheit können wir erst dann sprechen, wenn auch die Freiheit der Benachteiligten eingeschlossen wird. Eine Liberalisierung, die beispielsweise die Wahlmöglichkeiten und Freiheitschancen der Einkommensschwächsten einschränkt, ist eine halbierte Freiheit. Bei der Analyse sozialer Gerechtigkeit geht es immer auch darum, den individuellen Nutzen nach den „Verwirklichungschancen“ und Freiheiten der Schwächeren zu beurteilen.

Pettit verfolgt diese republikanische Idee der Freiheit von ihrer Entstehung in der römischen Republik über den Republikanismus der Florentiner Renaissance bis hin zur englischen und amerikanischen Revolution des 18.Jahrhunderts. Wie erkennt man „gerechte Freiheit“? Pettit schlägt hier den „Blickwechsel Test“ vor: sich ohne Grund zur Angst oder Ergebenheit in die Augen schauen zu können.

Erschienen in: Spectrum, Die Presse, 21.12.2018

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