Seelisch verletzte Kinder

Kinder brauchen Unterstützung, wenn sie mit ihrem Alltag und mit sich selbst nicht mehr zu Recht kommen.

Die Eltern sind auf die vierzigste Woche eingestellt, alle denken, dass das Kind im Oktober zur Welt kommt, und plötzlich findet die Geburt im Mai statt. Oft müssen die Kleinen im Krankenhaus bleiben, um überwacht zu werden. Die frisch gebackenen Eltern kommen ohne Kind heim, Familie und Freunde trauen sich nicht nachzufragen, es gibt keine Glückwünsche. Kommt ein Baby zu früh auf die Welt, ist es vielen Reizen brutal ausgesetzt. Es ist, als ob man auf einen 5000er geschickt wird – ohne Kondition, ohne Kompass, ohne Schuhe, ohne Kleidung, überhaupt nicht gesichert.  Meist werden die Frühgeborenen in den ersten Wochen intensivmedizinisch versorgt. In der Intensivstation sind Hoffnung und Angst ständige Begleiter. Dieser an sich lebensrettende Ort erzeugt aber auch Stress beim Neugeborenen – die Trennung von der Mutter, das Piepsen des Inkubators, das grelle Licht. Ein Rucksack, den viele Kinder ins Leben mitnehmen. Auch später kann es immer wieder vorkommen, dass Veränderungen im Leben wie Kindergartenstart oder Schulwechsel in den Kindern ein hohes Maß an Stress erzeugen. Bei Frühchen muss später gar nichts sein – aber es kann: die Verletzlichkeit des Handvoll Lebens mit 600 Gramm ist einfach sehr hoch.

Ortswechsel. In äußerst beengten Verhältnissen und überbelegten Wohnungen ist es für Kinder schwieriger, Aufgaben zu fokussieren. Aber es muss gehen. Die älteste Tochter von Frau Kellner, Petra, passt auch an vier Nachmittagen auf die kleineren Geschwister auf. Da ist die Mutter bei der Arbeit. Und wenn die Mutter nicht mehr kann, springt sie ein. „Im letzten Winter haben sie uns den Strom abgedreht“, erinnert sie sich.  Es war bitter kalt in der Wohnung. „Die Kinder haben geweint.“ Und wochenlang nicht gelernt. Petra, jetzt 14, fühlt alles akut mit, sieht, dass die Mama mit den täglichen Aufgaben alleine dasteht. Nahe Verwandte in der Nähe gibt es nicht und die Gro0mutter ist selbst bettlägerig. Das Mädchen ist mit der Schule und den Herausforderungen der Pubertät eigentlich überfordert, knickt immer wieder ein, wird krank und von lähmender Müdigkeit befallen. Viele Jugendliche reagieren mit depressiven Verstimmungen auf belastende und überfordernde Situationen. Das sagt uns auch die Forschung. Bei Kindern in der Sozialhilfe treten überproportional Traurigkeit und Kopfschmerzen auf. Teilt man die Gesellschaft in drei soziale Schichten, finden sich bei Kindern in der unteren Schicht mehr Kopfschmerzen, Nervosität, Schlafstörungen und Einsamkeit.

Die aktuelle Studie zur psychischen Gesundheit von Teenagern in Österreich teilt die Risikofaktoren in drei Kategorien: Erstens wäre da die soziale Dimension. Das trifft Kinder und Jugendliche, die ohne erwachsene Bezugsperson aufwachsen oder in Familien mit finanzieller Not leben müssen. Zweitens werden gesundheitsbezogene Risikofaktoren angeführt: zum Beispiel diagnostizierte psychische Erkrankungen in den Familien, traumatisierende Ereignisse wie Missbrauch und Gewalt, Tod einer nahestehenden Bezugsperson oder chronische physische Erkrankungen. Drittens geht es um persönliche Unsicherheit wie eine instabile, verwirrende Elternbeziehung oder arge Erlebnisse mit Mobbing. Traumatische Erfahrungen und prekäre Bindungen sind oft Ursachen für seelischen Verletzungen.
Am häufigsten treten Angstzustände auf, gefolgt von depressiven Leiden. Bei Burschen gibt es mehr Selbstverletzungen und Probleme mit Impulskontrolle, Mädchen sind von Angst häufiger betroffen, besonders gefährdet mit Essstörungen. Vierzehn Prozent der Kinder in Österreich brauchen therapeutische Hilfe bei Depression, Angstzuständen, Trauer oder traumatischen Erlebnissen. Die meisten von ihnen konnten keine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen – aus dem Grund, dass ihre Eltern sich diese nicht leisten können. Die Hälfte der Kinder war nicht in therapeutischer Behandlung, zwanzig Prozent der unbehandelten Kinder wünschen sich aber eine fachgerechte Hilfe. Kinder brauchen Unterstützung, wenn sie mit ihrem Alltag und mit sich selbst nicht mehr zu Recht kommen. Die Wunden seelischer Verletzungen zu heilen, verlangen Zeit und gute Begleitung. Es gibt hierzulande zu wenig kostenfreie Therapieplätze oder elendslange Wartezeiten. Besonders schwierig ist das nochmal außerhalb der Ballungszentren am Land. Kinder brauchen jemanden, auf den sie sich verlassen und an dem sie sich orientieren können. Seelisch verletzte Kinder brauchen heilsame Beziehungen. Therapeutische Hilfe kann Eltern in schwierigen Situationen unterstützen, Kinder gut und verlässlich zu versorgen, und eine sichere wie liebevolle Bindung zu ihnen aufzubauen. Eine sichere Bindung legt den Grundstein für ein gutes Aufwachsen. Der Mensch wird am Du zum Ich. Wir brauchen – gerade am Anfang – den anderen, um zu uns selbst zu kommen. Der Unterschied bei den geförderten Kindern war die Neugier, die Weltzugewandtheit, die Offenheit für Neues: Welt und Leben nicht als Überforderung sondern als Herausforderung erfahren zu können.

Stark und schwach zugleich

Papas Herz ist kaputt. Die beiden Buben sehen, dass Papa ins Krankenhaus muss. Sie sehen Mama weinen. Papa leidet an einer schweren Herzkrankheit. Ob er all das überleben wird, weiß niemand. Mama weiß es auch nicht. Sie sagt Sätze wie: „Die Engelchen sitzen auf Papas Schultern und überlegen, ob sie ihn mit in den Himmel nehmen sollen.“ Maja Roedenbeck erzählt auf dem Podium der Wiener Hauptbücherei von ihrer Familie und dem Ringen ihrer beiden Kinder in den Tagen von Papas Herztransplantantion – und vom Alltag davor und danach.

Ein Mann im Saal hebt die Hand und meldet sich zu Wort. „Ich kann nicht ruhig bleiben. Vieles aus meiner Kindheit kommt gerade hoch. All das, was ich mit meinem alkoholkranken Vater erlebt habe.“ In der Reihe schräg vor ihm nimmt eine junge Frau ihren Mut zusammen und das Mikrofon in die Hand. „Meine Mutter war schwer depressiv, so bin ich aufgewachsen, ich war als Tochter oft stark und dann wieder verzweifelt. Bin ich schuld? Was kann ich machen, damit es Mama wieder besser geht?“ Viele quälende Fragen haben das kleine Mädchen umgetrieben. Bis heute.

Maja Roedenbeck nimmt ihr Buch und liest eine weitere Geschichte vor. Sie erzählt von einem Mädchen, das seine psychisch kranke Mama pflegt. Titel der Story: „Das Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir ist wie das zwischen Patient und Pfleger“ 43.000 Kindern und Jugendliche erledigen in Österreich tagtäglich pflegerische Aufgaben, für die sie weder psychisch noch körperlich in der Lage sind. Das Durchschnittsalter der Kinder liegt bei 12 Jahren, 70 % sind Mädchen. Vielfach sind die Kinder allein gelassen. „Meine Mutter kam nach Monaten endlich wieder nach Hause,“ erzählt die junge Frau, „aber ich musste ihr beim Duschen helfen, den Haushalt führen, Essen kochen. Wenn sie zum Arzt musste, hab ich sie begleitet. Was sie gebraucht hätte, und was sie sich wünsche, fragt ein Zuhörer nach. Sie sagt: „Dass es jemanden gibt, der mich an der Hand nimmt und mir tragen hilft. Jemanden, der den Alltag weiterhin organisiert, ich mich nicht selbst um alles kümmern muss. Jemanden, der meine Sorgen ernst nimmt und mir Zuspruch und Verständnis entgegen bringt.“

Schwach und stark zugleich, mussten sie sein, erzählen die jetzt erwachsenen Kinder. Alle berichten, dass es keinen Raum für ihre Erfahrungen gab und gibt, ein großes Tabu, das nie angesprochen werden kann, mit dem sie sich allein gelassen fühlen. Bis heute dauert das Ringen um einen versöhnten Rückblick an: Das Ringen, dass all das, was war, selbstverständlicher Teil meiner Geschichte werden kann – ohne die Gegenwart zu vergiften und die Zukunft zu verbauen.

Erschienen in: Die Furche, Juni 2019

 

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