Soziales Fieberthemometer

Armut und soziale Prekarität in Österreich. Zum „Wozzek“ von Alban Berg in der Wiener Staatsoper.

Wir treffen uns im Sozialmarkt in der Neustiftgasse. Harald muss günstigst einkaufen, damit er über die Runden kommt. Die Teuerung spürt er an Haut und Knochen. Lebensmittel ziehen im Preis nach oben. Die Energiekosten würden im zu-Hause-Modus der Coronazeit an sich schon in die Höhe fliegen, hätte die Inflation nicht noch ein Schäuferl draufgelegt. Die Mieten sind bereits seit Jahren ein Problem für mittlere Einkommen. Harald kann von einem mittleren Einkommen aber nur träumen, er muss zur Zeit zwischen Niedriglohnjob und Mindestsicherung pendeln. Viel Arbeit, wenig Geld, viel Stress, wenig Spielraum. Wir trinken einen Kaffee. Am Tisch liegen Zeitungen. Alle haben die Teuerung am Titelblatt. Harald blättert in zusammengehefteten Papieren, die eine Erhebung zur Krise aus Sicht von Armutsbetroffenen enthalten. Die kleinen Preissteigerungen haben die Befragten dort schon vor über einem Jahr bemerkt. Was ausschließlich Einkommensschwache aufgrund der engen Haushaltsbudgets spürten, war die geringfügige, aber stetige Preissteigerung bei Lebensmitteln, vor allem Obst und Gemüse, aber auch bei Versandhandel und Gastronomie. Armutsbetroffene weisen hier ein geschärftes Sensorium auf, weil sie aufgrund ihrer ausgesetzten Position in der Gesellschaft schon kleine Veränderungen am eigenen Leib zu spüren bekommen. Sie sind eine so verletzliche Gruppe, da kann jeder Euro mehr, den man ausgeben muss, für eine Existenzkrise sorgen. Sie sind eine Art soziales Fieberthermometer, an dem sich negative, gesellschaftliche Entwicklungen, die später viele treffen, Monate vorab zeigen.

„Und wies wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen“

„Die Welt dreht sich halt weiter und ich komme irgendwie nicht nach.“ Das sagt ein junges Mädchen, das unter der Armutsgrenze lebt. Eine Studie hat jetzt ihre Stimme und die Stimmen vieler anderer hörbar gemacht. Armutsbetroffene und Armutsgefährdete, Leiharbeiter und Ich-AGs, Leute mit Sozialhilfe und Notstandshilfe, Alleinerziehende und sozial benachteiligte Jugendliche sprachen über ihr Leben. Die körperliche Gesundheit, die sozialen Kontakte und vor allem das psychische Wohlbefinden waren die großen Probleme. Und auch das Wohnen in zu großer Enge ist Thema. Wir fanden zwei Gruppen. Eine hat vor der Krise in schlecht bezahlten Jobs gearbeitet, hat keine Ersparnisse und bezieht sehr niedriges Arbeitslosengeld. Diese Menschen sind tatsächlich durch die Corona-Krise und ihren Jobverlust in Armut geraten. Die zweite Gruppe hatte einen gut bezahlten Job, im Idealfall finanzielle Rücklagen und einen ausreichend hohen AMS-Bezug. Sie kamen besser über die Runden. Bei prekär Beschäftigten und „working poor“ offenbarte sich aber ein Muster besonders klar: die finanziellen Probleme wirken auf andere in der Familie weiter und bringen diese in einer Art Kettenreaktion ebenfalls in existentielle Schwierigkeiten. „Ich habe den Haushalt angeschaut und gedacht: schaffe ich nicht. Ich habe alles angeschaut. Ich sollte das machen, schaff ich nicht. Ich sollte dies machen, schaff ich auch nicht. Das war schon so richtig Scheiße irgendwie. Und dann noch Schlafstörungen dazu“, sagt Alina, die sich mit drei Jobs durchschlägt. Es sei wie ein “Hamsterrad im Kopf“, berichtet die 30Jährige, die mit ihren drei Kindern fast zwei Jahre am sozialen Limit leben musste. Den ganzen Tag quälen die Sorgen und das Getöse im Kopf: Miete, Heizkosten, Lebensmittel. Jetzt nur keinen Schulausflug, der was kostet! Und nichts was kaputt wird! Und ja nicht krank werden! Und bitte nicht noch ein Problem im Betrieb!
289.000 Menschen leben hierzulande in Haushalten., in denen der Verdienst trotz Erwerbsarbeit nicht reicht, um die eigene Existenz zu sichern. 146.000 dieser „Working Poor“ sind Haushalte mit Kindern. Aus prekären oder zu gering bezahlten Jobs folgen nicht-existenzsicherndes Arbeitslosengeld und Pensionen. Wer sein Leben lang in prekären Jobs arbeitet, wird keine existenzsichernde Pension zusammenbekommen, das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe sind so gering, dass man im Falle von Jobverlust davon keinen Tag überleben kann. Prekär“ heißt ja wörtlich nicht nur „unsicher“, sondern lateinisch eigentlich „auf Widerruf gewährt“, „auf Bitten erlangt“. Da steckt der geringe Umfang an Kontrolle und Handlungsspielräumen bereits im Begriff.

„Den Puls Woyzeck, den Puls, klein, hart hüpfend, ungleich“

Wenn ich mit der Straßenbahn vom ärmsten Wiener Gemeindebezirk, Fünfhaus, in den reichsten -nach Hietzing -fahre, dann liegen dazwischen einige Minuten an Fahrzeit, aber auch sechs Jahre an Lebenserwartung der jeweiligen Wohnbevölkerung. Die Bevölkerung unter der Armutsgrenze weist einen dreimal schlechteren Gesundheitszustand auf als hohe Einkommen und ist doppelt so oft krank wie mittlere Einkommen. Das unterste Fünftel der Einkommensbezieher hat mit 18,5% den höchsten Anteil an Depression Erkrankter.. Im obersten Fünftel ist der Anteil Betroffener mit 3 % am niedrigsten.
Rund 30.000 Personen sind in Österreich nicht krankenversichert. Da ist Frau K. in prekärer Beschäftigung, da ist Herr G. in einer schweren psychischen Krise, da sind Hilfesuchende wie Frau L., die ihren Sozialhilfeanspruch aus Scham nicht einlösen, da ist Herr G., der hier unangemeldet am Bau arbeitet.
Menschen unter der Armutsgrenze sind mit der Nicht-Leistbarkeit von Gesundheitsleistungen konfrontiert. Durch Selbstbehalte oder fehlenden Kostenersatz seitens der Krankenkassen sind etwa Heilbehelfe, Brillen, Schuheinlagen oder Hörgeräte nicht finanzierbar. Selbiges gilt für Zahnersatz und andere notwendige Zahnbehandlungen. Eine kaputte Brille oder ein kaputter Zahn können somit schon große Probleme hervorrufen, weil sie entweder gar nicht, oder nur durch einen enormen finanziellen Aufwand adäquat ersetzt werden können. Getönte Brillengläser, um Kopfschmerzen zu vermeiden, eine Zahnspange für die Kinder oder ein moderner Rollstuhl, um auch außerhalb der Wohnung mobil zu sein, werden zum unleistbaren Luxus. Leiste ich mir den Selbstbehalt für neue Stiftzähne oder zahle ich die Miete für meine kleine Wohnung? Es sind Fragen wie diese, mit denen die Linzerin Sonja Taubinger öfters konfrontiert ist. Im Zweifelsfall entscheidet sie gegen ihre Gesundheit. Aus leicht nachvollziehbarem Motiv: „Was helfen mir die schönsten Zähne, wenn ich damit zurück auf die Straße muss?“ Sonja Taubinger verkauft in Linz die Straßenzeitung Kupfermuckn. Sie weiß nur zu gut, wie schlimm es ist, obdach- und schutzlos zu sein.

„Aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine Anglaise, und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein“

„Es ist einfach demütigend. Am Magistrat hat eine Sachbearbeiterin zu mir gesagt: ‚Warum suchen Sie sich keinen Mann, der Sie erhält?“ Das erzählt Christine, die von vielen Berg- und Talfahrten aus ihrem Leben berichten kann. Ihre Alltagserfahrung ist mit Demütigungen gepflastert. Beschämung ist nicht bloß ein harmloses persönliches Gefühl. Es ist eine Bedrohung, die leicht in der Luft, aber schwer auf Körper und Geist liegt. Beschämung ist eine soziale Waffe. Ich werde zum Objekt des Blickes anderer gemacht. Andere bestimmen wie ich mich zu sehen habe.  Wir sprechen von „Gesichtsverlust“ und fühlen unser Ansehen bedroht. Man möchte im Erdboden versinken. Unsichtbar sein. Der Ökonom Adam Smith hat das bereits 1776 in seinem Klassiker „Der Reichtum der Nationen“ festgehalten: Arm ist, „being unable to appear in public without shame“. Es geht um die Freiheit, über die eigene Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verfügen zu können. Beschämung ist eine Frage des Blickes und des Ansehens. Für den Philosophen Philipp Pettit heißt deswegen auch „gerechte Freiheit“ anderen auf Augenhöhe zu begegnen. Er schlägt hier den „Blickwechsel Test“ vor: sich ohne Grund zur Angst oder Ergebenheit in die Augen schauen zu können.
Denn Beschämung hält Menschen klein. Sie rechtfertigt die Bloßstellung und Demütigung als von den Beschämten selbst verschuldet. Das ist das Tückische daran. „Soziale Scham fordert zu ihrer eigenen Moralisierung auf, um eine Erklärung für den Sinn der Verletzung zu ergründen, die man zuvor erfahren hat“, so der Soziologe Sighard Neckel. Damit der Akt der Beschämung seinen Zweck erreicht, muss für den beschämenden Mangel die Verantwortlichkeit auf die beschämte Person selbst übertragen werden. „Meine Scham ist ein Geständnis“ formulierte Jean Paul Sartre. Er beschrieb, dass Beschämung darauf beruhe, den anderen zum Objekt der eigenen Freiheit zu machen, der damit im gleichen Maße Freiheit und Autonomie verliert. „Es ist auch die ganze existenzielle Bedrohung, nie wissen, was entscheidet die Regierung, mich nicht mehr wehren können, weil ich nicht gesund werde, ich bin da komplett angewiesen“, das erzählt Christine angesichts der aktuellen Sozialhilfekürzungen.

„Still, alles still, als wär die Welt tot“

„Da war ein Fenster offen und eine Geigerin spielt, irrsinnig schön, also Mozart und Bach. Dann waren immer mehr Leute, sie wollte schon aufhören. Eine Freundin von mir hat gesagt, bitte nicht aufhören, bitte noch eins spielen. Zu Hause ist alles still und zu Hause wartet niemand auf mich und zu Hause bin ich allein. Und sie hat dann noch gespielt, also mir sind total die Tränen gekommen.“ Das erzählt eine Frau aus Graz. Sie lebt unter der Armutsgrenze.
Einsamkeit bedeutet sich von der Welt getrennt fühlen. Die Welt gibt es da draußen, aber ich bin nicht mehr mittendrin. Die Welt mag tönend, farbig, warm und frisch sein. Meine Welt ist es nicht. Die Welt ist fremd geworden zu einem selbst. Wer sich von allen guten Geistern verlassen fühlt, verliert auch das Vertrauen in die Welt rundum. Vertrauen heißt sich der Welt zugewandt fühlen. „Den meisten kann man vertrauen. Stimmt das?“ fragt die Statistik Austria.  Am wenigsten „Ja“ darauf sagen können diejenigen, die schlechte Jobs haben, die unter der Armutsgrenze leben, die am sozialen Rand stehen. Einander zu erleben als welche, die Einfluss haben, deren Handeln Sinn macht, wird als „Selbstwirksamkeit“ bezeichnet. Die Welt bekommt einen Sinn. Mit Ohnmacht vergeht dieser „Weltsinn“. Je geringer der soziale Status, desto eher erleben die Betroffenen Situationen der Ohnmacht, der Einsamkeit und der Beschämung. Achtung und Wertschätzung bedeuten, in der Welt gesehen zu werden.  Christine sagt es so: „Dass ich jetzt nicht mehr wo hingehen muss für eine Beihilfe, für eine Unterstützung, nicht mehr Betteln oder Ansuchen zu müssen, das ist sehr viel wert. Das stärkt das Selbstwertgefühl unheimlich“.

 „Das Schlimmste an der Armut ist, dass man arm ist und weiter nichts“, hat der Soziologe Georg Simmel formuliert. Alina: „Eine arme Frau will ich ganz sicher nicht genannt werden. Arm sein, das klingt, als hätte ich nichts anderes zu bieten als die Tatsache, dass ich mit wenig Geld auskommen muss. Das einzige, das die anderen an mir sehen, ist meine Armut. Der Umstand der Armut definiert mich – und sonst nichts. Ich bin der Blick der anderen. Ich bin das Objekt der Anschauung. Ich bin Armut.“ Die einen verwandeln so Menschen in Objekte sozialmoralischer Pädagogik, in defizitäre Unterschichtsdeppen, die nichts können. Die anderen betrachten sie als Objekte erobernder Fürsorge, als immerwährende Opfer, die alles brauchen. Niemals aber wird das sichtbar, was Menschen noch alles sind, was sie tun und was sie sein können. Wie Alina beispielsweise handelt, als Person, als Frau, als Mensch, als Mutter, als Organisatorin, als Musikerin. „Ich erlaube mir, einen persönlichen Betroffenheitsbericht zu übermitteln, der zeigt, wie leicht man durch die Maschen des sozialen Netzes fällt“, so beginnt ein Brief, den mir eine 55jährige Frau geschrieben hat. Er schließt mit der Bitte: „Sollten Sie meinen Bericht verwenden, dann nennen Sie bitte meinen Namen nicht – ich bin leider noch nicht soweit, dass ich mich für meine Situation nicht schäme – auch wenn der Verstand mir sagt, dass ich nichts dafür kann.“

Erschienen in: Wozzek, Wiener Staatsoper, Programmheft, März 2022.

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