Der reiche und schöne Dorian Gray besitzt ein Porträt, das statt seiner altert und in das sich die Spuren seines Lebenswandels gewaltvoll einschreiben. Während das Bildnis von Gray immer hässlicher und unansehnlicher wird, bleibt er selbst jung und makellos schön. So geht die berühmte Geschichte im Roman von Oscar Wilde. Facebook bietet den umgedrehten Dorian Gray: Man selbst wird älter, ist unperfekt und unbedeutend, während das digitale Bildnis makellos, besonders und perfekt bleibt. Wir erschaffen unser digitales Bildnis so wie wir uns selbst wünschen: ein Dorian Gray, der sein digitales Ich in die Welt der Träume führt. Der Tag besteht darin, dem digitalen Ebenbild nachzueifern, ihm gleichen zu wollen. Die Schönheitsoperationen im Gesicht folgen dem Blick aufs digitale Ebenbild. Jedes Posting wird eine Geschichte über sich selber, jedes Like verrät eine Story über die eigenen Vorlieben, jeder Eintrag im Profil vervollständigt das Bildnis, das anleitet, wie wir die anderen sehen machen wollen, wie wir uns gerne sehen würden. Das Ziel ist: Maximale Anerkennung bei maximaler Privatheit. Man wäre gerne ein Anonymer, über den jeder spricht. Am liebsten ganz privat – aber allseits bekannt; für alle Verborgen und für alle sichtbar zu gleich.
Facebook kann viel. Es vernetzt, macht Spaß, teilt Infos. Doch ist mittlerweile auch das Misstrauen in den alltäglichen Gesichtszwang deutlich vernehmbar. Es steigt durch Gesichtserkennung und Kontrolle die Gruppe derer, die ihr Gesicht verbergen. Pussy Riot in Moskau, die Occupy-Bewegung mit ihren Masken, Bansky inkognito mit seiner Street Art, Peter Licht singt ohne Bild. Die Sehnsucht nach Anonymität wächst.
Auch bei den Mächtigen. Die neue Macht will unsichtbar sein: Als der Autoindustrielle Walter P. Chrysler im Jahr 1929 vom Time Magazine zum „Man of the Year“ gekürt wurde, wuchsen die entsprechenden Gebäude in lichte Höhen: das Chrysler Building zeigte sichtbar wo die Macht saß: auf 319 Metern Höhe in Manhatten. Die neuen Gebäude der Macht ein Jahrhundert später entstehen in Kalifornien: Facebook baut eingeschossig, lässt Landschaften am Dach wachsen, fügt sich unsichtbar in die Natur. Der digitale Riese baut flache Zwergenlandschaften im Grünen. Diese neuen Gärten der Macht wollen verschwinden. Es gibt den Gesichtszwang für alle bei einer gleichzeitigen Ästhetik des Verschwindens der Mächtigen. Die Menschenmasse stellt sich mit Millionen digitalen Ebenbildern aus, während die digitale Macht sich unsichtbar machen will.
Dorian Grays verfallendes Porträt lagerte verhüllt in seinem ehemaligen Kinderzimmer unter dem Dach. Das Gemälde unseres sich vervollkommnenden digitalen Ichs steht offen in den wohltemperierten Kellern der Facebook Gärten – und in den gekühlten Hinterzimmern der Geheimdienste. Gut behütet wird dort einstweilen mein digitales Bildnis immer besser und schöner, sportlicher und perfekter.
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