Zukunft trotz(t) Herkunft

Schulen in sozial benachteiligten Bezirken müssen besonders gut ausgestattet werden, damit sie keine Schüler zurücklassen und für alle Einkommensschichten attraktiv bleiben. Die Niederlande, Zürich, Hamburg und auch Kanada haben mit einer „kompensatorischen Mittelzuteilung“ gute Erfahrung gemacht. „Bildung  X-Plus“ – eine schulpolitische Intervention zur Bildungsreform.

Eine überbelegte Wohnung fällt zusammen mit einer Halbtagsschulordnung. Wenig Einkommen trifft auf ein einkalkuliertes Nachhilfesystem. Keine Unterstützung zu Hause kommt mit eigener Erschöpfung und Unkonzentriertheit zusammen. Und  schlecht ausgestattete Schulen vereinen sich mit einem sehr selektiven Schulsystem. 11%  der Volksschulen, 17% der Hauptschulen, aber nur 2%  der AHS  weisen eine hohe soziale Benachteiligung auf. Trotz der im europäischen Vergleich geringen Kinderarmut schneidet Österreich in der sozialen Mobilität „nach oben“ nur durchschnittlich ab. Wie stark hierzulande der Lernerfolg von Kindern am sozialen Status der Eltern hängt, zeigt die internationale Lesestudie Pirls auf: Hohe Bildung und damit hohes Einkommen, hohe berufliche Position bedeuten im hiesigen Schulsystem um 90 Punkte bessere Leistung als Kinder aus Elternhäusern mit weniger Bildung und Einkommen. In anderen Ländern beträgt dieser Abstand weniger als 40 Punkte samt besserer Spitzenleistungen. Die Förderung von Spitzenleistungen muss nicht auf Kosten der Förderung von schwächeren Schülern gehen. Vielmehr können Schulsysteme ihre Besten für Spitzenleistungen qualifizieren, gleichzeitig aber dafür sorgen, dass der Abstand der schwächsten Schüler zu den besten gering ist. Pirls zeigt uns, dass die Unterschiede bereits vor der großen Bildungsentscheidung mit 10 Jahren  – im internationalen Vergleich – beachtlich groß sind. Mit der „Erstselektion“ nach der 4. Schulstufe wird dann noch der Turbo weiterer „sozialer Vererbung“ gezündet.

Schule kann vieles nicht, aber in Richtung Chancengerechtigkeit doch mehr als wir ihr hierzulande zutrauen.  Warum also dieses Potential brach liegen lassen? Warum Kindern, die es schon von Haus aus schwer haben, noch schwerer machen? Ob eine Schule diesen Teufelskreis durchbrechen hilft oder nicht, liegt an der Schulorganisation genauso wie an der Unterrichtsqualität, an der Schulraumarchitektur genauso wie an der Lehrerausbildung. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Erna Nairz-Wirth von der Wirtschaftsuniversität Wien hat in einer qualitativen Erhebung die systemischen Gründe für Schulabbruch analysiert. Risikofaktoren für „early school leaving“ sind zu große Lerngruppen, mangelnde pädagogische Kooperation  oder nicht vorhandenes Mentoring in den Schulen. Systemisch steigt das Risiko mit nichtvorhandenen ganztägigen Schulformen, dem System des Sitzenbleibens oder mangelnder vorschulischer Angebote. Und außerschulisch läuft es falsch, wenn es keine Elternarbeit gibt, keine Öffnung zur Schulumgebung, zum Stadtteil oder keine Kooperation mit der offenen Jugendarbeit.

Eine Möglichkeit da etwas zu verbessern, ist Schulen in sozial benachteiligten Bezirken besonders gut auszustatten, damit sie keine Schüler zurücklassen und für alle Einkommensschichten attraktiv bleiben. Mit dieser schulpolitischen Intervention kann zwar die Spaltung in „gute“ und „schlechte“ Wohngegenden nicht aufgehoben werden, – die liegt ja in der Einkommens- und Wohnpolitik-, aber es kann in den Schulen einiges verbessert werden. Die Niederlande, Zürich, Hamburg und auch Kanada haben mit einer kompensatorischen Mittelzuteilung gute Erfahrung gemacht. Mit einem solchen Sozialfaktor, der unter anderem Bildungsstand, Beruf und Einkommen der Eltern umfasst,  würde eine Schule um einen bestimmten Prozentsatz x mehr an Ressourcen bekommen: Bildung X-Plus. In Toronto  heißt das „Learning Opportunity Index (LOI)“. Wozu er dient, argumentieren die Kanadier so: „Die Schulen mit dem höchsten Wert haben die stärksten Herausforderungen zu bewältigen und brauchen daher die meiste Unterstützung“. Die Maßzahlen beziehen sich in Toronto auf die unmittelbare Wohnumgebung der Schüler und der Schule selbst. Die Modellschulen sind in 8 Cluster gruppiert mit verantwortlichen Lehrern (lead teachers), Weiterbildung (learning classroom teacher) und Sozialarbeitern (community support worker). Der LOI wird alle zwei Jahre berechnet.

In Österreich wird man dabei besonderes Augenmerk auf die Unterrichtsqualität und Raumstruktur legen müssen. Wie wir aus dem hiesigen Schulsystem wissen, bedeutet mehr Geld nicht automatisch, dass die Schule qualitativ besser wird. Deswegen muss jeder Standort ein Konzept entwickeln, wie er die Ressourcen am sinnvollsten einsetzt. Und nach einer Zeit wird überprüft ob die Maßnahmen helfen. Die Vorteile sind: Schulische Autonomie und Demokratie wird gefördert und Anreize für engagierte Pädagogen gesetzt. Das zahlt sich aus für die Kinder: Bessere Leistungen, mehr Chancen und attraktivere Schulen. Das zahlt sich aber auch aus für alle anderen: Nach Schätzungen von Hanushek und Wößmann würde sich das jährliche Wachstum des Bruttosozialprodukts in Österreich um einen halben Prozentpunkt erhöhen, wenn sich der Anteil der Schulabgänger mit geringen Lesekompetenzen auf Null reduziert.

Erschienen in: Der Standard, 12.12.2013.

 

 

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