Statusangst

Über die psychologischen Kosten, die entstehen, wenn die soziale Schere zwischen unten und oben aufgeht.
Siebzehntausend Beschäftigte in Büros wurden auf Unterschiede in der Sterberate bei Herzerkrankungen untersucht. Die niederen und mittleren Dienstränge hatten eine bis zu viermal höhere Sterberate bei Herzerkrankungen als die oberen Dienstränge.

Nimmt man ihnen Blut ab, finden sich in den unteren Rängen weit höhere Werte des Stresshormons Kortisol als bei den Top-Diensträngen. Diesen Ergebnissen des bahnbrechenden Black Reports und der Whitehall Studie der 1980er Jahre gehen Richard Wilkinson und Kate Pickett in ihrem neuen Buch „The Inner Level“ mit aktuellen Datensätzen nach. Ausschlaggebend ist nicht die Höhe deines Einkommens, sondern wo es dich in der sozialen Hierarchie hinstellt. Im Zentrum stehen die Zusammenhänge von sozialer Ungleichheit und Status. Also wie sich Angst um die eigene soziale Position auswirkt, wie wir um Einfluss ringen und mit Ohnmacht umgehen, wie Dominanz und Unterwerfung vermittelt sind. Je stärker die soziale Polarisierung, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, andere hinunter zu drücken, um sich selbst zu erhöhen. Narzissmus und Selbstüberschätzung steigen an in ungleicher werdenden Gesellschaften. Wilkinson und Pickett stellen die Frage nach den psychologischen Kosten, die entstehen, wenn die soziale Schere zwischen unten und oben aufgeht. Die beiden Epidemiologen, die an den Universitäten von York und Nottingham forschen, haben eine Fülle von Datensätzen zusammen getragen.
Das Interessante daran: Die Situation verschlechtert sich im Falle höherer Ungleichheit für alle, auch für die Mittelschichten. Mit sinkendem sozialem Status steigen die Krankheiten an, die untersten sozialen Schichten weisen die schwersten Krankheiten auf und sind gleichzeitig mit der geringsten Lebenserwartung ausgestattet. Es lässt sich aber eine soziale Stufenleiter nachweisen, ein sozialer Gradient, der mit jeder vorrückenden Einkommensstufe die Gesundheit und das Sterbedatum anhebt.
Es geht um die Alltagssituationen, die mit dem sozialen Status und mit allen damit einhergehenden Vergleichsprozessen verbunden sind: die Bedrohung des eigenen Ansehens, Demütigung, die Verweigerung von Anerkennung, soziale Disqualifikation. Es sind nicht nur die Belastungen ungleich verteilt, sondern auch die Ressourcen sie zu bewältigen. Für Kinder und ihr gesundes Aufwachsen bedeutet das:  Lerne ich den Geschmack vom zukünftigen Leben als Konkurrenz, Misstrauen, Verlassensein, Gewalt? Oder habe ich die Erfahrung qualitätsvoller Beziehungen, Vertrauen und Empathie gemacht? Werde ich schlecht gemacht und beschämt oder geschätzt und erfahre Anerkennung? Ist mein Leben von großer Unsicherheit, Angst und Stress geprägt, oder von Vertrauen und Planbarkeit? Je ungleicher Gesellschaften sind, desto defizitärer sind diese psychosozialen Ressourcen. Es gibt weniger Inklusion, das heißt häufiger das Gefühl ausgeschlossen zu sein. Es gibt weniger Partizipation, also häufiger das Gefühl, nicht eingreifen zu können. Es gibt weniger Reziprozität, also häufiger das Gefühl, sich nicht auf Gegenseitigkeit verlassen zu können.

Erschienen in: Album, Der Standard. Rezension „The Inner Level“: Sachbuch zu Ungleichheit und Statusangst. 28.12.2018.



Dieser Beitrag wurde unter Uncategorized abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.