Was ich lese und was nicht

Dimitré Dinev lese ich gerade. Ein kleiner Erzählband mit dem Titel „Ein Licht über dem Kopf“. Fröhlicher tiefschwarzer Humor. Das Licht über dem Kopf ist im Überlebensalltag eine Taxilampe am Autodach. „Kleine Jobs unter freiem Himmel, unbeständig wie das Wetter und gepeitscht vom kalten Donauwind. Kleine Jobs, die keine Zuflucht waren.“ Die Geschichte endet ausnahmsweise gut und mit dem Satz „Unerhört sind die Wunder der Wirklichkeit“. Wir werden sehen. Vorher war das Einschlafbuch für die Kinder dran. Dieses mal „Zilly, die Zauberin“. Jetzt ist es neun Uhr am Abend und nicht mehr viel zu tun. Das ist was für Musik hören und das neue The Gap durchblättern, und, wenn ich noch nicht ganz hirntot bin, das Spex vom letzten Monat. An solchen Abenden kommt auch Lettre dran, diesmal mit einer schier unglaublichen Geschichte vier junger Männer aus Bangladesch. Psychologie heute leg ich weg, vorher streich ich mir eine Rezension zu einem Freud-Buch über Angstlust an und zu einem von Carl Rogers, dem Begründer der personzentrierten Psychotherapie. Am nächsten Morgen ist Lesetag, weil ich einen Überblick brauche. Auf der aktuellen Armutskonferenz geht es um Verteilung, nicht nur von Geld, sondern auch von Lebensqualität, Chancen, Anerkennung. Am Tisch liegen die OECD-Studie „Growing Unequal“, die WIFO-Verteilungsstudie und die Forschungsarbeit „Produktivkraft des Sozialen“, die IHS-Arbeit „Early School Leaving“, „Spirit Level“ von Wilkinson, der Sammelband „Gesundheitliche Ungleichheiten“, das neue Buch „Mythen der Krise“. Ich mag das. Mich in eine Fragestellung vertiefen, viele Indikatoren ansehen, Zusammenhänge verstehen. Die Bücher „The Idea of Justice“ und die „Die Identitätsfalle“ des Wirtschaftsnobelpreisträgers und Sozialphilosophen Amartya Sen, die ich gerade angefangen habe, muss ich jetzt zurückstellen. Genauso Hannah Arendts „Vita activa“. In der U-Bahn hole ich den Augustin aus der Tasche, lese die „Kulturpassage“ des Straßenzeitungsverkäufers Rudi Lehner: Hanekes Film, „beeindruckende Charakterstudie, halbe Stunde zu lang“. Übrigens. Geheimtipp: Die Linzer Straßenzeitung Kupfermuckn. Untergründiges, das sonst nirgendwo geschrieben wird. Neben dem Bett liegen Gedichtbände von Robert Schindel, „Fremd bei mir selbst“, Ingeborg Bachmann und Kurt Marti. Daneben das Dinev-Büchlein. Aber da schau ich heute nicht mehr rein.

Was ich nicht lese:

Da gibt es mehrere Varianten. Sachen, die ich nicht lese und wo mir gar nicht auffällt, dass ich sie nicht lese, weil sie nicht vorkommen in meinen Gedanken oder meiner Aufmerksamkeitsökonomie. Dann gibt es Sachen, die da sind und die ich nicht lesen mag, denen ich aber nicht auskomme. Zur ersten Kategorie: Esoterik lese ich nicht. Das kommt nicht vor in meinem Alltag. Horoskope lese ich nicht. Die bekomm ich, wenn, vorgelesen. Dann ist es aber meist sehr unterhaltsam. Was ich nicht mehr lesen mag: Die Computerbausteine der Fremdenpolizei-Bescheide, mit denen sie Familien zerschlagen, die hier seit Jahren leben, lieben und arbeiten – Kinder, die „die öffentliche Sicherheit und Ordnung?“ gefährden und derartige Prosa. Was ich nicht lese, aber mehr lesen sollte: Das Fernsehprogramm. Würde mir viel sinnloses und frustiges Zappen ersparen. Ratgeberprosa mag ich nicht lesen. Bei „So werden Sie …“ krieg ich beim Blick auf´s Cover Hautausschlag. Jetzt warte ich auf die Ratgeberliteratur „Wie ich besser arbeitslos bin“ oder „Abstieg leicht gemacht“ oder „Verlieren lernen“. Oder „Die Kunst des stilvollen Verarmens“. So lautet der Buchtitel des neu aufgelegten Bestsellers Alexander von Schönburgs. Die Botschaft: mit weniger besser auskommen, ärmer reicher werden. Das Buch ist exzellent geschrieben und trifft einen richtigen Punkt: Warum brauchen wir den Konsumramsch und den „immer mehr, aber nie genug“-Stress? Problematisch wird es, wenn man sich anschaut, was Schönburg unter „Verarmen“ versteht. Statt ins teure Restaurant zu gehen, empfiehlt er, selber zu kochen. Statt übers Wochenende nach London zu fliegen, tut´s ein Ausflug auf die nahe Wiese auch. Und die Dachbodenwohnung muss ja nicht sein, wenn man auch in einer kleineren Wohnung Freude haben kann. Armutsbetroffene aufzufordern, das alles ein wenig lockerer zu sehen und dem Elend ein wenig mehr Stil zu geben … na ja. Dabei hat von Schönburg, der den Armutsbegriff umdeutet, um sozialen Abstieg aus der oberen Mittelschicht als pädagogisch wertvolle Lernerfahrung zu preisen, einen wichtigen Impuls für den sozialen Ausgleich geliefert. Weniger Reichtum ist die Chance für ein Mehr an Glück. Diesem Glück soll nichts im Wege stehen. Vermögensbezogene Steuern würden diejenigen, die von zu viel Reichtum betroffen sind, in ihrer stilvollen Arbeit am Glück massiv unterstützen. Da kann ja im doppelten Sinne aus weniger mehr werden.

Erschienen in Datum – Seiten der Zeit (04/2010): Was ich lese und was nicht.

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