Es reicht! Mitten im reichen Europa leben Millionen von Menschen, die jeden Cent mehrmals umdrehen müssen. Armut ist das Leben, mit dem die wenigsten tauschen wollen. Die Betroffenen haben die schlechtesten Jobs, die geringsten Einkommen, die kleinsten und feuchtesten Wohnungen, sie haben die krankmachendsten Tätigkeiten, wohnen in den schlechtesten Vierteln, gehen in die am geringsten ausgestatteten Schulen, müssen fast überall länger warten – außer beim Tod, der ereilt sie um einige Jahre früher als Angehörige der höchsten Einkommensschicht. All dies ist alltägliche Realität – für mehr Menschen als von den meisten anderen angenommen. Sie leben am Limit, kämpfen mit dem Mangel an Möglichkeiten und leiden am Verlust existentieller Freiheiten, der damit einhergeht. Jede und jeder der Menschen, die in Armut leben, hat einen Namen, ein Gesicht, eine individuelle Geschichte. Einige davon werden auf den folgenden Seiten näher vorgestellt. Elisabeth, George, Herbert, Selina …. Wir kennen uns aus der Sozialberatung und aus Notunterkünften, aus der Arbeit in der Straßenzeitung und von gemeinsamen Aktionen, von Nachhilfestunden und Schulprojekten, aus Initiativen zur Gesundheitsförderung und Selbsthilfegruppen, aus der europäischen Vernetzung von Menschen mit Armutserfahrungen.
„Ich hätte mir nie gedacht, dass mir das passiert“, hören wir immer öfter Frauen und Männer sagen, die sich „ganz unten“ wieder finden. Die Biographien der Betroffenen sind bunter als der schnelle Blick glauben macht. Die Dauerpraktikantin mit Uni-Abschluss und der Schulabbrecher, die Alleinerzieherin mit drei kleinen Kindern, die früher als Dolmeterscherin weit in der Welt herum kam und der Langzeitarbeitslose, der einmal eine Firma gemanagt hat. Der junge Mann mit Depression, der sich in sozialen Initiativen engagiert und die perfekt Deutsch sprechende Migrantin in der Leiharbeitsfirma. Der Freund, der sich als Ich-AG durchschlägt und die – nach einem Bandscheibenvorfall des Vaters – überschuldete Familie. Ihre Geschichten sind unterschiedlich, ihre Lebensverhältnisse prekär. Kürzlich in der Beratungsstelle: ein junge Frau mit zwei Kindern, deren Einkommen so gering ist, dass sie entscheiden muss: zahle ich die Krankenversicherung oder die Miete oder die Hefte zum Schulanfang für die Kinder.
Dass die Armut steigt, fällt auch jenen auf, die (noch) nicht unmittelbar von ihr betroffen sind. Drei Viertel aller EuropäerInnen geben mittlerweile an, dass die Armut in ihrem Land weit verbreitet ist. Und während aktuellen Studien zeigen, dass neun von zehn EuropäerInnen von ihren Regierungen Maßnahmen gegen Armut erwarten, wird das Fehlen politischer Maßnahmen immer deutlicher. Auch wenn es in Sonntagsreden anders klingen mag, Armut wird in Kauf genommen.
Für alle! Ungleichheit schadet und zwar fast allen. Noch mehr Ungleichheit heißt noch mehr Krankheiten und noch geringe Lebenserwartung für Ärmere, mehr Teenage-Schwangerschaften, mehr Status-Stress, mehr Gewalt und mehr soziale Ghettos. Eine sozial polarisierte Gesellschaft bringt Nachteile nicht nur für die Ärmsten sondern auch für die Mitte.
Es lohnt sich, im Trommelfeuer der vorgetragenen Verknappung von Mitteln, der permanenten Sparlogik und Opferrhetorik die Fülle in den Blick zu bekommen. Es lohnt sich, die ökonomischen Sachverhalte zu überprüfen, die uns als unumstößliche Wahrheit präsentiert werden. Es lohnt sich, die Produktionsstätten neualter Ideologien auszuheben, die Glück und Freiheit versprechen und soziale Polarisierung bringen. Es lohnt sich, auf die Suche danach zu gehen, was Reichtümer vermögen.
Die Finanzkrise wird abgesagt. Die soziale Krise steht aber erst vor der Tür. Während die Finanzmärkte sich wieder auf „Business as usual“ einstellen, soll die Bevölkerung mit Sparpaketen bezahlen, was das Finanzdesaster an Löchern in die öffentlichen Haushalte geschlagen hat. Wie die Kosten der Krise verteilt werden, entscheidet über mehr oder weniger Armut in den nächsten Jahren.
Wege aus der Armut: Armut ist multidimensional und ihre Entstehung multifaktoriell. Deshalb sind auch die Instrumente zu ihrer Bekämpfung entsprechend umfassend anzulegen. Für die Reduzierung der Armut braucht es eine ganzheitliche Strategie, einen integrierten Ansatz, die Fähigkeit in Zusammenhängen zu denken. Erst im Zusammenwirken entfalten Maßnahmen ihre Wirkung.
Es geht darum, die Schwächen des Sozialstaats zu korrigieren und seine Stärken zu optimieren. Es geht darum, Antworten auf die großen sozialen Herausforderungen und neuen sozialen Risken, wie etwa prekäre Beschäftigung, Pflege, psychische Erkrankungen oder Migration zu finden. Es geht um einen Freiheitsbegriff, der auch die Freiheit der Benachteiligten einschließt. Es geht um ein Verständnis von Autonomie, das Bedürftigkeit nicht als Gegensatz formuliert. Es geht um eine Politik des Sozialen, die Bürgerinnen und Bürger sieht, nicht Untertanen.
Wer seit vielen Jahren in sozialen Organisationen und Armutsnetzwerken engagiert ist, kennt neben den düsteren Realitäten auch die Wirkung der Arbeit sozialer Organisationen und die Erkenntnisse der Armutsforschung, die – wie auch einzelne Best-Practice- Beispiele in einigen Ländern belegen – zeigen, dass es auch anders geht. Armut ist vermeidbar – auch in Krisenzeiten. Weniger Jobs, weniger Lohn, weniger Zukunft, weniger Sicherheit sind keine Naturereignisse, die über uns hereinbrechen. Das sollen die Analysen in diesem Buch deutlich machen.
Am Ende jedes Kapitels folgen Orientierungsvorschläge für weniger Armut. Dabei handelt es sich um eine Art Kompass, der anzeigen soll, in welche Richtung es gehen muss. Die skizzierten Wege betreffen stets die gesellschaftliche Ebene, die gemeinschaftlichen Zusammenhänge und auch den persönlichen Kontext. Die angeführten Beispiele sind dabei zwangsläufig unvollständig. Sie sollen zeigen, dass es Alternativen gibt, auch und gerade in Zeiten der Krise. Dass es noch viel zu tun gibt, aber auch sehr viel, was wir tun können, damit es für alle reicht.
Vorwort aus: Es reicht! Für alle! Wege aus der Armut (2010), Von Michaela Moser und Martin Schenk, Deuticke