Die vielen Leben der Marie Jahoda- autobiografische Erinnerungen der Sozialpsychologin und Mitbegründerin der qualitativen Sozialforschung.
Ein großes Haustor gab den Weg frei ins zu Hause der Familie Jahoda in der Wiener Seidlgasse. Das Tor schmückte ein holzgeschnitzter Kopf eines brüllenden Löwen. Man dürfe dem Löwen nicht die Finger ins Maul stecken, erklärte man der kleinen Marie, er könnte beißen. Das Mädchen hatte Zweifel. „Die Gelegenheit kam, als meine Mutter in der Nähe stand und mit irgendjemandem redete – eine notwendige Experimentalbedingung für den Fall, dass ich Hilfe brauchte. Ich nahm allen Mut zusammen, reckte mich und steckte dem Löwen einen Finger ins Maul. Er biss nicht.“ Von dieser ersten Alltagsforschung erzählt Marie Jahoda in ihren Erinnerungen mit dem Titel „Rekonstruktionen meiner Leben“, welche jetzt erstmals als vollständiger Text in deutscher Übersetzung erschienen sind. Die Sozialpsychologin und Mitbegründerin der qualitativen Sozialforschung schreibt hier keine lineare Autobiografie, sondern verwebt ihre Erinnerungen, Einfälle und Reflexionen ineinander: „Rekonstruktionen enthalten immer auch Erfundenes oder vielmehr Interpretation im Lichte späterer Erfahrungen“.
Marie Jahoda studierte am Institut für Psychologie bei Charlotte Bühler und schloss mit einer Dissertation über Lebensgeschichten in Armenhäusern Wiens ab. Ein Jahr trug sie im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum Daten zusammen für die darstellenden Statistiken Otto Neuraths. Sie unterrichtete als Hilfslehrerin an Volksschulen. Und sie untersuchte die Arbeitslosen von Mariental.
Wien war in den 1920ern nicht nur ein guter Boden für neue Ideen in Kunst, Politik und Wissenschaft, sondern auch für Nationalismus und Antisemitismus. Wegen ihres politischen Engagements wurde Jahoda im autoritären Ständestaat inhaftiert, kam nach drei Monaten frei unter der Bedingung, das Land sofort zu verlassen. Sie floh nach England. Ihre 1930 geborene Tochter Lotte war mit dem Vater Paul Lazarsfeld bereits nach New York emigriert. Die Trennung von Lotte und das spätere Pendeln zwischen den USA und England sei so, als „wenn einem der Atlantische Ozean quer durch das Herz geht“.
Vom Exil in London aus riet sie ihrer in Wien zurückgebliebenen jüdischen Familie, die Ersparnisse außer Landes und sich selbst in Sicherheit zu bringen. „Edi lehnte ab und meinte, ich sei überängstlich.“ Ein paar Tage später marschierte Hitler in Österreich ein.
Der Text des Buches ist persönlich gehalten, und doch auch mit dem Blick der Sozialwissenschafterin geschrieben, neugierig distanziert zu sich selbst, kein heroischer Rückblick. Denn eigentlich unglaublich, was da für ein Leben geschildert wird: Gefängnis, Lebensbedrohung, Krieg, Bomben, Geheimsender, Trennungen, immer wieder neu anfangen, immer wieder neu Job suchen. Die Zeitperspektiven wechselt sie mehrmals, am Schluss hören wir eine 90jährige sprechen, die durch mangelnde Sehkraft schon schwer beeinträchtigt ist.
In England angekommen begann Jahoda eine Forschungsarbeit über eine Genossenschaft arbeitsloser Bergarbeiter in Südwales. Als sie einige Zeit in Bristol lebte, widmete sie sich einer Studie über Mädchen in Papierfabriken. Die 14jährigen wurden von der Schule weg für ungelernte Arbeiten eingestellt, Jahoda arbeitete mehrere Monate in der Fabrik mit. Dort spielt sie wieder ihre Stärke aus: den Finger in das Löwenmaul zu stecken – mit ihrem empirischen Blick auf die konkrete Lebenswelt und ihrem Interesse für Probleme von Menschen, die nicht im Licht stehen.
Erschienen im Album der Tageszeitung Der Standard, 28.April 2024