Auf die Frage „Wie geht’s dir?“, fange ich sofort zu weinen an, schreibt die Regisseurin Elisabeth Scharang, die sich beim Anschlag in der Wiener Innenstadt ins nächste Restaurant flüchten konnte.
„Aus dem Nichts drückt eine Welle aus Schmerz in mir hoch, die mir die Stimme verschlägt. Dabei ist mir nichts passiert, ich bin nicht verletzt worden und nicht direkt bedroht.“ Und doch, es ist etwas passiert. Eine massive Verletzung. Das Vertrauen in die Welt ist angeknackst, die Überzeugung zusammengebrochen, man könne sich in der Welt sicher fühlen.
Im Buch geht es um die Weltunsicherheiten, die uns jetzt eine nach der anderen heimsuchen. Und wie wir die Angst verarbeiten. Der Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer behandelt Virus, Krieg, Flucht, Klima in psychoanalytischem Sinne der Unterscheidung von Real-, Gewissens- und neurotischer Angst. Angst ist nicht gleich Angst. Probleme entstehen, wenn die Realangst verleugnet, die Gewissensangst lächerlich gemacht und die neurotische Angst gezielt verbreitet wird. Die Realangst wird vom Ich geprüft, das an drei Fronten kämpft: der Außenwelt, dem Über-Ich und dem Es. Die neurotische Angst sorgt sich nicht vor äußeren Gefahren, sondern vor unseren inneren und teilweise verbotenen Regungen. Da spielen die verdrängten Impulse eine zentrale Rolle. Die Gewissensangst, das Über-Ich, agiert mit zwei Aspekten, dem strafenden Teil, der uns Angst macht, und dem Ich-Ideal, „an dem das Ich sich misst, dem es nachstrebt“ (Sigmund Freud).
Nun können wir als Panzer auf zwei Beinen durch die Welt gehen und behaupten, keine Angst zu haben. Diese „kontraphobische“ Variante verleugnet die Realangst und muss die eigene Furchtlosigkeit mächtig inszenieren. Das macht auch ein bestimmter Politikertypus. Oder wir verschauen uns in die jungen Blender, verlieben uns in einen Erlöser, der idealisiert und zu einer inneren Instanz wird, die sogar das Gewissen ersetzen kann.
Eine Gesellschaft tut uns nicht gut, „die den Menschen eine Verleugnung der Realität, permanente Verstöße gegen die Stimme ihres Gewissens und eine zu starke Unterdrückung ihrer Leidenschaften aufnötigt“, argumentiert Ottomeyer. So gesehen kann Angst ein guter Ratgeber sein, aber nur „wenn es uns gelingt, realistische Angst mit einer menschenfreundlichen Gewissensangst zu verbinden, und wenn es uns gelingt, unsere neurotisch paranoiden Ängste zu reflektieren und daran zu hindern, in unserem Handeln die Oberhand zu gewinnen“, empfiehlt Ottomeyer bei Ängsten tiefer zu steigen. „Wenn wir das Gefühl haben, dass wir mit der Realität, mit unserem Gewissen und mit unseren Leidenschaften freundschaftlich verkehren können, haben wir großes Glück.“
„Ich vermute, einer der Gründe, warum Menschen so hartnäckig an ihrem Hass festhalten, ist, weil sie spüren: wenn der Hass einmal verschwunden ist, werden sie gezwungen sein, sich mit Schmerz zu beschäftigen“, sagt Literaturnobelpreisträger James Baldwin. Das gilt für Hassprediger, aber das gilt umgekehrt auch für uns alle in anderer Form. Es ist zur Zeit keine leichte Situation. In Dauerschleife läuft ja als Hintergrundbedrohung Corona weiter, das sich wie ein ewiges Warten ohne Ziel anfühlt. Viel Erschöpfung jetzt nach so vielen Monaten. Dazu der nahe Krieg und die neue Unübersichtlichkeit mit den Teuerungen. Für autoritäre Politiken ein fatal fruchtbarer Boden. Das Buch trägt den Titel „Angst und Politik“. In diesen Augenblicken sind Dinge politisch durchsetzbar, die sonst bei Verstand, Abwägung und Verhältnismäßigkeit nie gingen. Weil der Schmerz so groß ist.
Erschienen im Spectrum der Tageszeitung Die Presse, „Wenn das Urvertrauen angeknackst ist“, 09.09.2022