Verliererbeschimpfung

Die Ökonomen Karla Hoff und Priyanka Pandey veröffentlichten im Auftrag der Weltbank die Ergebnisse eines ungewöhnlichen Feldversuches. Sie legten Kindern, die sowohl aus einer höheren wie aus einer niederen indischen Kaste kamen, Aufgaben vor. In einem ersten Durchgang schnitten die Kinder aus den niederen Kasten leicht besser ab als die aus den höheren. Niemand wusste, wer welcher Kaste angehört. Dann wiederholte man das Experiment. Zuerst mussten sich die Kinder mit Namen, Dorf und Kastenzugehörigkeit vorstellen, dann durften sie die Aufgaben lösen. Das Ergebnis: Die Leistungen der Kinder aus den unteren Kasten waren deutlich schlechter. Gleiches aus den USA bei Sprachtests und bei Vergleichen von unterschiedlichen sozialen Statusgruppe in Europa. Wenn man eine Gruppe verletzlich macht hinsichtlich negativer Vorurteile, die im gesellschaftlichen Kontext vorherrschen, dann bleibt das nicht ohne Wirkung. Wer damit rechnet, als unterlegen zu gelten, bringt schlechtere Leistungen. »Stereotype threat« wird dieser Effekt genannt, Bedrohung durch Beschämung. Umgedreht heißt das, dass die besten Lernvoraussetzungen in einem anerkennenden Umfeld zu finden sind, dort wo wir an unseren Erfolg glauben dürfen. Statusangst und die Folgen negativer Bewertung sind Lern- und Leistungshemmer. Eine zentrale Kategorie ist in diesem Zusammenhang der Begriff der »Unterschicht«. Er hat in den letzten Jahren wieder an Aktualität gewonnen. Zum einen ist das gut, weil es klarstellt, dass es ein Oben und Unten gibt, Macht und Ohnmacht, ein Mehr und Weniger. In den achtziger und neunziger Jahren wollten uns ja viele glauben machen, dass es nur mehr Lebensstile gibt und sich alle bloß dadurch unterscheiden, ob sie Volksmusik oder Underground hören, Lodenmantel oder Jackett tragen, Schweins­braten oder Bio essen. Empirisch hat das nie gestimmt, wenn wir die Arbeiten der OECD studieren wa­ren sozialer Status, Einkommen, Bildung oder berufliche Position stets entscheidend für Chancen und Möglichkeiten in der Gesell­schaft. Somit stellt die Feststellung einer »Unterschicht« gesell­schaftliche Realitäten richtig. Andererseits aber ist das kein un­schuldiger Begriff, im Gegenteil, er hat eine lange Geschichte. Gunnar Myrdal sprach 1962 zum ersten Mal von einer »under­class«. Er sah die gekündigten Arbeiter aussterbender Industrien in den USA, mit sinkendem Lebensstandard, an den sozialen Rand gedrängt. »Underclass« war bei Myrdal eine soziologische Kategorie – ohne moralisierende Beiklänge, ohne abwertende Untertöne und kulturelle Zuschreibungen. In den späten sechzi­ger Jahren erfuhr der Begriff eine stigmatisierende Umdeutung. Er wurde zum einen von politischen und ökonomischen Eliten moralisch aufgeladen, um soziale Unterstützung für die unters­ten Einkommensschichten zu denunzieren und zu kürzen. Zum anderen griffen ihn Interessengruppen auf, um die Bürger­rechtsbewegung Martin Luther Kings, die immer stärker auch soziale Rechte einforderte, zu delegitimieren. Am Schluss blieb vom soziologischen Begriff der »underclass« die Karikatur des »faulen Negers« über. Sozialwissenschafter wie William Julius Wilson versuchten eine empirische und realistische Beschrei­bung von »underclass« zu retten und sprachen von »ghetto poor« oder »new urban poor«, aber die Sache war längst gelaufen. Die Geschichte der Armutsdiskurse besteht seit hunderten Jahren in ei­nem sich stets wiederholenden Prozess, bei dem die jeweilige  Verlierergruppe eines grundlegenden sozialen Wandels für ihre verschlechterte ökonomische Lage selbst verantwortlich ge­macht, beschimpft und herabgewürdigt wird. In Deutschland tauchte die »Unterschicht«, nicht zufällig, in Vorbereitung der Hartz-Reformen wieder auf.

Ähnlich dem »faulen Neger« in den USA betritt die Unterschicht mit dem „nutzlosen Türken“ Thilo Sarrazins die diskursive Bühne. Die Thesen Sarrazins fallen historisch aber nicht einfach vom Himmel. Gerade die genetische und bevölke­rungspolitische Argumentation hat Traditionslinien – gerade auch in der So­zialdemokratie. In den 1920er Jahren stellte der Wiener Stadtrat Julius Tandler die Forderung nach einer «Aufzuchtsoptimierung“ angesichts so vieler „Untüchtiger“ und „Minusvarianten“ auf. Und der schwedische Reichtagsabgeordnete Alfred Petren beklagte die «unablässig steigenden Ausgaben für Defekte, Abnorme, asoziale Menschen verschiedener Art in allen Kulturländern». Die Vertreter dieser Strömungen waren alles andere als Nazis, aber völkische Demographen mit berechnender ökonomistischer Nützlichkeitslogik. Die Sarrazin-Thesen haben dieselbe ideologische Grundierung, wenn auch sprachlich und theoretisch modernisiert.

An die Programme der Menschenzucht schmiegen sich die Ideen des Sozialdarwinismus an. In Fauna und Flora herrscht ein permanenter «Kampf ums Dasein», in dem sich nur die Lebenstüchtigsten durchsetzen können. Diese Thesen Darwins werden nun im Sozialdarwinismus gesellschaftstheoretisch angepasst. Auch die menschliche Gesellschaft sei eine Arena, in der dieser Kampf ums Dasein stattfindet, auch hier gewinnen nur die Tüchtigsten, welche die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben. Soziale Ungleichheit, so die Botschaft des Sozialdarwinismus, hat nichts mit entstandenen Machtverhältnissen zu tun, sie darf auch nicht als Problem begriffen werden, sondern sie ist etwas ganz Natürliches. Arm und Reich sind dann nämlich nichts anderes als die gesellschaftliche Widerspiegelung der biologischen Ungleichheit von Menschen. Eine praktische Ideologie für die, die wollen, dass alle Ungerechtigkeiten so bleiben, wie sie sind. Argumentiert wird dann mit schlechtem Charakter, kulturellem Verfall und Faulheit – natürlich der anderen. Diese Debatte ist kulturversessen und verhältnisvergessen. Für Großbritannien beschreibt der Historiker und Journalist Owen Jones in seinem Buch „Prolls“ diese Geschichte der Verachtung von Einkommensarmen. In Österreich ist die Debatte lang noch nicht so vergiftet, aber auch hierzulande zeigen sich Symptome wie die alte Idee aus dem Klassenfeudalismus, „Proleten“ das Wahlrecht zu entziehen, gefunden in „Prolokratie“ von Christian Ortner.

„Das Schlimmste an der Armut ist, dass man arm ist und weiter nichts“, hat der große deutsche Soziologe Georg Simmel formuliert. Das einzige, das die anderen an mir sehen, ist meine Armut. Der Umstand der Armut definiert mich – und sonst nichts. Ich bin der Blick der anderen. Ich bin das Objekt der Anschauung. Ich bin Armut. Die einen verwandeln so Menschen in Objekte von Strafpolitik , in defizitäre Unterschichtsdeppen, die nichts können . Die anderen verwandeln aktive Personen in Objekte erobernder Fürsorge, in immerwährende Opfer, die alles brauchen.  Niemals aber wird das sichtbar, was Menschen noch alles sind, was sie tun und was sie sein können. Wie Tanja beispielsweise handelt, als Person, als Frau, als Mensch, als Mutter, als Organisatorin, als Musikerin. Das kann man sich übrigens gerade im Film „NervenBruchZusammen“ im Kino anschauen. Eine Reportage in einem Übergangswohnheim für Frauen in sozialen Krisen. Da werden Schwache stark. Da werden Menschen, die guten Stoff für jeden Unterschichts-Sozialporno hergegeben hätten, als das geschildert, was sie noch alles sind: findig, klug, listig, duldsam, leidend, strategisch, sorgend und verantwortungsvoll.

Aus: Die Furche, Dossier, 14.März 2013

 

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1 Antwort zu Verliererbeschimpfung

  1. AXEL TIGGES sagt:

    und was heißt das? Es ist die Eigenwahrnehmung wg. der Sozialisierung durch Eltern und Schule.
    Und was können wir da tun? Werdet wie die Kinder
    ihnen zuhörend sie mit mit JA & UND bestärken, in dem wir sie bitten, die Erwachsenen in ihrer Konkurrenz sie so zu begleiten, dass sie wieder wie Kinder werden. Und wer kann das schon? Ich weiß, wie schwer es bisweilen ist, auf andere zuzugehen. Manchmal ist es dazu erforderlich, zunächst selbst ein Stück zurückzutreten, vielleicht sogar bis zu der Abzweigung zurückzugehen, an der man sich verlaufen hat. Auch ich habe mich immer wieder darauf eingelassen und dabei im Lauf der Jahre gelernt, achtsamer und liebevoller mit mir selbst umzu- gehen. Inzwischen versuche ich das Gleiche in meiner Beziehung zu anderen, zu Hause, bei der Arbeit und unterwegs. Es klappt nicht immer, aber immer besser. Mein Lächeln lässt diese anderen Menschen zurücklächeln. Wenn ich anderen meine Aufmerksamkeit schenke, bekomme ich sie von ihnen zurück. Und seit einiger Zeit suche ich in der Universität, in der Stadt oder wo immer ich unterwegs bin, auch immer wieder nach Menschen, die wirklich glücklich sind. Ich erkenne sie an einem besonderen Leuchten in ihren Augen. Manchmal frage ich Freunde und Bekannte, ob auch sie das erkennen können. Zu meiner Überraschung scheinen sie zu wissen, was ich meine. Offenbar sind wir alle in der Lage, einem anderen Menschen anzusehen, ob er sich nicht einfach nur zufrieden, froh, gutgelaunt oder in gehobener Stimmung fühlt, sondern ob er in seinem tiefsten Inneren wirklich glücklich ist. Es macht mich sehr froh, dass es solche Menschen gibt. Sie scheinen das Geheimnis zu kennen, wie es gelingen kann, mit sich selbst und mit der Welt in Einklang, in Kohärenz zu kommen. Im Gegensatz zu manchen Kindern, bei denen dieses Leuchten in den Augen noch häufiger zu beobachten ist, aber allzu oft auch im nächsten Moment schon wieder verlischt, bleibt es bei diesen Menschen immer da. Sie wirken so, als seien sie ständig in diesem glücklichen Zustand. Bisher sind mir allerdings nur eine Handvoll solcher Menschen begegnet. Eine Putzfrau, ein indischer Guru, ein Unternehmer und eine Nonne waren dabei. Es scheint also nicht vom beruflichen Erfolg oder der sozialen Stellung abzuhängen, ob jemand dieses nach außen strahlende innere Glück verkörpert. Im Gespräch mit ihnen ist mir aufge- fallen: Sie haben alle keine Angst mehr. Und deshalb müssen sie auch nichts mehr festhalten. Und sie müssen auch niemandem mehr etwas beweisen. Das macht sie so offen und ihren Blick so frei. Sie wirken so, als hätten sie etwas zu verschenken. Aber sie drängen dieses Geschenk auch niemandem auf. All jene Menschen, die sich mit anderen zu einer Potential- entfaltungsgemeinschaft verbunden haben, müssten künftig an diesem Strahlen in ihren Augen zu erkennen sein. Dann wäre diese grundlegende Transformation unseres bisherigen Zusammenlebens nicht mehr aufzuhalten. GERALD HÜTHER
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