Aktuelle Daten zeigen: Ein starkes soziales Netz reduziert Abstiegsgefahr und schützt die Mitte vor Armut
Er hat einen breiten, hohen Rücken, der Kopf mit Mund geht nach unten, der Rüssel zeigt nach oben. Der Elefant, der da über die Erdkugel spaziert, bildet die Entwicklung der Einkommen in den letzten 30 Jahren ab. In einer Grafik, die als Elefantenkurve bekannt geworden ist. Beim Schwanz hinten, ganz unten wird der arme, abgehängte Teil der Weltbevölkerung sichtbar. Dort, wo sich des Elefanten Rücken befindet, ist der Anstieg der Einkommen der städtischen Mittelschichten in China und Indien abgebildet. Dort, wo der Mund nach unten geht und der Rüssel seinen Anfang nimmt, kann man die unteren Mittelschichten Europas und der USA erkennen, im aufgerichteten Rüssel sehen wir die Zunahme des Reichtums der Reichsten.
Die Elefantenkurve, die auf den Weltbankökonomen Branko Milanovic zurück geht, zeigt uns vier Entwicklungen:
- Es gibt Regionen dieser Erde, die weiter bitter arm sind.
- Es gibt eine Verbesserung der Einkommen in den städtischen Milieus Asiens, besonders in China.
- Es gibt einen Verlust bei den unteren Mittelschichten in Teilen Europas und den USA.
- Und es gibt mehr Reichtum ganz oben. Die Gruppe der Superreichen mit mehr als 2 Milliarden Dollar Vermögen hat sich verfünffacht und ihr Gesamtbesitz mehr als verdoppelt.
Die Elefantenkurve beim Rüssel zeigt uns noch ein interessantes Detail: Der Rückgang der Mittelschicht im Westen ist dort am stärksten, wo der Sozialstaat geschwächt und abgebaut wurde. Ersichtlich in den USA, Großbritannien oder Spanien.
Bei einem genaueren Blick auf die Mitte werden unterschiedliche Teile dieser – oft fälschlicherweise als einheitlich dargestellten – Schicht sichtbar. DIE Mitte gibt es nicht. Bezieht man neben Einkommen auch Konsum und Vermögen in die Analyse ein, dann zerfällt die Mitte in einen Teil mit Rücklagen und in einen ohne. Die untere Hälfte hat kaum nennenswertes Vermögen. Wobei „Unten“ und „Mitte“ einander näher sind als „Mitte“ und „Oben“. Und das macht einen Riesenunterschied. Die untere Mittelschicht lebt nämlich solange in relativem Wohlstand mit Mietwohnung, Auto, Urlaub, Hobbies und Zukunftschancen für die Kinder, solange Systeme des sozialen Ausgleichs existieren. Ihre Lebensqualität wird durch den Sozialstaat möglich gemacht. Pensionsversicherung, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, geförderte Mietwohnungen und öffentliche Schulen sichern den Lebensstandard und verhindern gerade in unsicheren Zeiten ein Abrutschen nach unten. Die untere Mitte hat kein Vermögen um Einschnitte wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit einfach aufzufangen. Und wäre sie gezwungen Vermögen für Alter, Bildung, Krankheit oder Arbeitslosigkeit anzusparen, wäre ihr Lebensstandard und ihr Konsumniveau vernichtet. Die Mitte ist dort weniger gefährdet, wo es ein starkes Netz sozialer Sicherheit gibt.
All das weist auf die Stärken eines gut ausgebauten Sozialstaats hin:
- Sozialleistungen wirken als automatische Stabilisatoren: Während Industrieproduktionen, Exporte und Investitionen in Folge der Finanzkrise stark gesunken sind, ist der Konsum der privaten Haushalte stabil geblieben, teilweise sogar gestiegen.
- Ein stabiles Sozialsystem fördert stabile Erwartungen: Der Sozialstaat bedeutet eine Risikoabsicherung bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und im Alter. Die Verlässlichkeit der sozialen Institutionen verhindert Angstsparen.
- Länder mit hohen Sozialstandards performen besser: Sämtliche wirtschaftlichen Indikatoren (Beschäftigung, Wirtschaftswachstum, BIP, Arbeitsproduktivität) zeigen, dass die skandinavischen und kontinentaleuropäischen Länder die besten Ergebnisse vorweisen.
- Der Großteil wohlfahrtsstaatlicher Leistungen stellt eine Umverteilung im Lebenszyklus dar. Wir befinden uns im Laufe unseres Lebens auf verschieden Einkommensstufen. Die meisten wandern im Laufe des Lebens die Einkommensleiter hinauf und im Alter wieder eine gewisse Strecke zurück. Der kontinentaleuropäische Sozialstaat legt hohen Wert auf Versicherungsleistungen und Statuserhalt; daher profitiert die Mittelschicht stark von den Sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen.
- Sozialleistungen tragen entscheidend zum sozialen Ausgleich bei und wirken armutspräventiv. Sie reduzieren die Armutsgefährdung von 44% auf 13,9%. Am stärksten wirken Arbeitslosengeld, Notstands- und Mjndestsicherung sowie Wohnbeihilfe und Pflegegeld. Während die Lohneinkommen und die Vermögen auseinander gehen, blieben die Haushaltseinkommen in Österreich relativ stabil. Die soziale Schere geht auf, der Sozialstaat gleicht aus.
Auch das zeigt: Der Sozialstaat ist nicht in erster Linie für die Armen da. Ein starkes soziales Netz stützt und schützt die Mittelschichten. Es kann nicht Ziel sein, möglichst viele Leute in die Mindestsicherung zu drängen, was beispielsweise die Abschaffung der Notstandshilfe bewirken würde. Wenn die Zahl der Bezieher im untersten Netz steigt, stimmt in anderen Bereichen der Gesellschaft etwas nicht: Langzeitarbeitslosigkeit Älterer, Pflegenotstand, prekäre nichtexistenzsichernde Jobs, explodierende Wohnkosten, Burn Out, mangelnde soziale Aufstiegschancen im Bildungssystem. Es ist notwendig, dort etwas zu tun, wo die vorgelagerten Systeme nicht funktionieren.
Denn: Soziale Maßnahmen, die nur auf die Armen zielen, neigen dazu, armselige Maßnahmen zu werden. Poor services for poor people. Diejenigen Staaten, deren Sozialsysteme sich in erster Linie an „Treffsicherheit“ orientieren, wie England oder die USA, haben die höchsten Armutsquoten und hohe soziale Ungleichheit. Staaten mit Absicherung sozialer Risiken für eine breitere Bevölkerung weisen geringere Armut auf. Diese Systeme wirken offensichtlich stark präventiv. „Je stärker die Leistungen auf die Armen konzentriert werden, desto unwahrscheinlicher wird eine Reduktion von Armut und Ungleichheit“, so die unter dem Titel „Paradoxon der Verteilung“ bekannt geworden Studien der Sozialwissenschafter Korpi & Palme. Ähnlich argumentiert auch der Ökonomen Michael Förster von der OECD: „Jene Staaten, deren Nettotransfersystem am ehesten als targeted bezeichnet werden kann, sind nicht diejenigen, welche Armut am effektivsten vermindern – eher im Gegenteil. Ein wichtiges Element bleibt die Höhe der Sozialquote sowie die progressive Verteilungswirkung des Steuersystems.“ Nur allzu schnell verselbstständigt sich der Trend weg von universellen, sozialen Bürgerrechten hin zur selektiven, almosenhaften Armenfürsorge. Der Vergleich mit einer Zielscheibe sieht den Leistungsbezieher in keiner Weise als aktive Person, die für sich selbst sorgt, handelt und tätig ist“, darauf hat Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen immer wieder hingewiesen. „Das Bild verweist eher auf einen Almosenempfänger“. Die Treffsicherheitsdebatte verwandelt Bürger mit sozialen Rechten in bittstellende Untertanen.
Was sind die Stärken und was sind die Schwächen, fragt man sich, wenn man etwas verbessern will. Im besten Fall führt dies dazu, dass die Schwächen korrigiert und die Stärken optimiert werden. Das gilt auch für den Sozialstaat. Dort, wo soziale Probleme steigen, müssen wir gegensteuern, dort, wo soziale Probleme präventiv verhindert werden, müssen wir weiter investieren. Denn sonst werden die Schwächen verstärkt und die Stärken geschwächt.
Erschienen in : Die Furche Mai 2018