Was sind die Stärken und was sind die Schwächen, fragt man sich, wenn man etwas verbessern will. Im besten Fall wird man dann die Schwächen korrigieren und die Stärken optimieren. Das gilt auch für den Sozialstaat. Dort, wo soziale Probleme steigen, müssen wir gegensteuern, dort, wo soziale Probleme präventiv verhindert werden, müssen wir weiter investieren. Oft passiert das Gegenteil: Die Stärken werden geschwächt und die Schwächen verstärkt.
Zu den Stärken:
– Sozialleistungen wirken als „automatische“ Stabilisatoren: während Industrieproduktion, Exporte und Investitionen in Folge der Finanzkrise stark gesunken sind, ist einzig der Konsum der privaten Haushalte stabil geblieben bzw. sogar gestiegen.
– Ein stabiles Sozialsystem befördert stabile Erwartungen: Der Sozialstaat bedeutet eine Risikoabsicherung bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter. Die Verlässlichkeit der sozialen Institutionen verhindert Angstsparen.
– Länder mit hohen Sozialstandards „performen“ besser: Sämtliche wirtschaftlichen Indikatoren (Beschäftigung – insbesondere Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum, Armutsgefährdung, Staatsfinanzen) zeigen, dass die skandinavischen und kontinentaleuropäischen Länder die besten Ergebnisse haben.
– Die meisten wohlfahrtsstaatlichen Leistungen stellen eine Umverteilung im Lebenszyklus dar. Wir befinden uns im Laufe unseres Lebens auf verschieden Einkommensstufen. Die meisten wandern im Laufe des Lebens die Einkommensleiter und im Alter wieder eine gewisse Strecke zurück. Der kontinentaleuropäische Sozialstaat legt hohes Gewicht auf Versicherungsleistungen und Statuserhalt; daher profitiert die Mitte stark von den Sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen.
– Monetäre Transfers tragen entscheidend zum sozialen Ausgleich bei und wirken armutspräventiv. Sie reduzieren die Armutsgefährdung von 40% auf 12%. Am progressivsten wirken die klassischen Sozialausgaben wie Arbeitslosengeld, Notstands- und Sozialhilfe sowie Wohnbeihilfe. Staatliche Umverteilung erfolgt in Österreich fast ausschließlich über die Ausgabenseite: Ins 1. Drittel fließen 44% aller Sozial- und Wohlfahrtsausgaben und belaufen sich dort auf 84% der Markteinkommen. Auch ohne Berücksichtigung der Haushalts-Größe fließen fast 90% der Arbeitslosenversicherung, der Notstands- und der Sozialhilfe, sowie der Wohnbeihilfen ins untere Drittel bzw. der Hinterbliebenenpensionen in die unteren zwei Drittel. Deutlich weniger umverteilend wirken die die übrigen wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben für Gesundheit, Bildung und Familienförderung, die im Wesentlichen nach der Zahl der kranken Personen bzw. der Kinder, der Schüler und Studenten verteilt werden. Aber auch sie wirken progressiv, d. h. ihre Bedeutung in Relation zum Einkommen nimmt in den höheren Einkommensschichten ab.
Fehlentwicklungen
Wir können eine Reihe von Fehlentwicklungen und Problemstellen des österreichischen Wohlfahrtsstaates identifizieren, um die herum auch die höchsten Armutsrisken auftreten. Reformstrategien für sozialen Ausgleich lassen sich aus diesen sozialstaatlichen Fehlsteuerungen wie ein gewendetes Negativ ableiten. Was sind nun die Fehlentwicklungen im hiesigen Sozialstaatsmodell?
Nach dem Krieg wurde der Sozialstaat auf vier Säulen errichtet:
1. Der Annahme eines männlichen Ernährerhaushalts
2. Der Annahme eines Normalarbeitsverhältnisses
3. Der Vorstellung einer kulturell homogenen Bevölkerung
4. Dem Prinzip der Statussicherheit (plus einem Schuß Ständismus)
In den letzten Jahren hat sich einiges geändert:
1. Viele Frauen sind Familienerhalterinnen und es gibt vielfältigste Formen des Zusammenlebens.
2. Unterbrochene Erwerbsbiographien und unsichere McJobs nehmen zu.
3. Viele Menschen sind nach Österreich zugewandert, und
4. Bildung ist im Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft entscheidender geworden.
Auf all diese vier Entwicklungen wurde sozialpolitisch nicht rechtzeitig reagiert:
1. Das Festhalten am «männlichen Ernährerhaushalt» führt zum hohen Armutsrisiko von Alleinerzieherinnen und zur Mindestpension für ein Drittel aller Frauen.
Laut Studie „Growing Unequal“ der OECD (2010) , stellt in Österreich vor allem der Status „Ein-Eltern Haushalt“ ein Armutsrisiko dar: Denn nimmt man alle Haushalte, in denen Kinder leben, liegt Österreich in Bezug auf die Armutsquote mit sechs Prozent am fünften Platz hinter Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland. Nimmt man nur die Haushalte Alleinerziehender mit Kindern, fällt Österreich auf den achten Platz zurück. In den nordischen Ländern ist die Situation anders: Dort haben Alleinerziehende ein weit geringeres Armutsrisiko. Weiters wirken sich die Verteilung der Familienaufgaben zwischen den Geschlechtern aus. Die sorgenden Tätigkeiten wie Kinder betreuen, Oma pflegen, waschen und kochen sind rhetorisch gewürdigt, in der Praxis aber gering bewertet. Und Frauen zugeteilt. Insgesamt liegt die durchschnittliche Arbeitsbelastung von Frauen durch Erwerbsarbeit, Haushalt und Kinderbetreuung im Schnitt bei 45,2 Stunden pro Woche. Davon entfallen zwei Drittel auf Haushalt und Kinderbetreuung. Bei Österreichs Männern liegt die wöchentliche Gesamtbelastung im Schnitt nur bei 35,1 Stunden. Nur ein Fünftel entfällt dabei auf Haushalt und Kinderbetreuung (Statistik Austria 2002).
2. Die Fixierung auf die klassische Erwerbsarbeit übersieht die steigende Zahl der «Working Poor» und die Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse.
Jetzt schon leben 206.000 Menschen in Österreich in Haushalten, in denen der Verdienst trotz Erwerbsarbeit nicht reicht, um die eigene Existenz -und die der Kinder- zu sichern (Statistik Austria 2011). Unfreiwillige Ich-AGs, Generation Praktikum, Abstiegsbiographien sind hier die Stichworte.
3. Die jahrelange Konzentration auf die Herkunft („Gastarbeiterpolitik)“ schafft soziale Ausgrenzung und mangelnde Aufstiegschancen von MigrantInnen.
Lange wurde am Gastarbeitermodell und seiner Vorstellung temporärer Arbeitskräfte festgehalten. Maßnahmen zu Integration und Inklusion haben relativ spät in den 90er Jahren eingesetzt. Drittstaatenangehörige müssten ihrer Ausbildung entsprechend eigentlich um dreißig, Eingebürgerte um zwanzig Prozent mehr verdienen. Sie werden weit unter ihrer Qualifikation beschäftigt. Nach der erfolgten Dequalifizierung findet kein beruflicher Aufstieg mehr statt. Die Dequalifizierung nach der ersten Beschäftigung wird im Lebenslauf nicht mehr überwunden.
4. Ein sozial selektierendes Bildungssystem mit Tendenz zu homogenen Gruppen blockiert sozialen Aufstieg.
Trotz der im europäischen Vergleich geringen Kinderarmut schneidet Österreich in der sozialen Mobilität „nach oben“ nur durchschnittlich ab. Die soziale Herkunft entscheidet überaus stark den weiteren Lebensweg. Hohe Bildung und damit hohes Einkommen, hohe berufliche Position bedeuten im hiesigen Schulsystem um neunzig Punkte bessere Leistung als Kinder aus Elternhäusern mit weniger Bildung und Einkommen. In anderen Ländern beträgt dieser Abstand weniger als vierzig Punkte (Pirls 2011).
5. Zu geringe Investitionen in Dienstleistungen lassen z.b Pflegebedürftige und ihre Angehörigen allein und lassen Potentiale im Dienstleistungssektor brach liegen.
Nirgendwo im Sozialsystem gibt es so hohe Selbstbehalte, nirgendwo wird so rigoros auf das eigene Vermögen und das der Angehörigen zugegriffen, wie im Pflegefall. Wird im Krankenhaus noch auf hohem Niveau für uns gesorgt, sind wir, sobald wir als „austherapiert“ gelten, auf uns allein gestellt oder werden im Alter zum Fall für die Sozialhilfe. Österreich gibt 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Pflege aus, Dänemark 2,6 Prozent, Finnland 2,9 Prozent. Die sozialen Dienstleistungen wie Kinderbetreuung oder Pflege liegen in Österreich unter dem EU-Durchschnitt.
6. Der Paternalismus des Sozialstaats schafft mangelnde Transparenz und Mitbestimmung (Arbeitslose am Arbeitsamt, Patienten in Spitälern, Migranten ohne Wahlrecht, Mitbestimmung in den Sozialversicherungen etc.) Hier wirkt auch der Dschungel des föderalen Systems mit seinen neunmal unterschiedlichsten Regelungen, die in vielen Fällen sachlich nicht begründbar sind. Und eine Verwaltungs- und Vollzugspraxis, die nicht den Bürger, sondern den Untertanen sieht. Vieles atmet da den obrigkeitsstaatlichen Wohlfahrtsstaat; «Vater Staat», der seinen minderjährigen Kindern (milde) Gaben zuteilt.
Die aktuelle Armutsstatistik weist drei Gruppen als besonders gefährdet aus, die exakt den ersten drei Säulen des Zugangs zu sozialstaatlichen Leistungen entsprechen: Alleinerzieherinnen und AlleinverdienerInnen im Niedriglohnsektor. Prekär Beschäftigte und Langzeiterwerbslose und MigrantInnen. Im Sozialstaat „bismarkscher“ kontinentaler Prägung wie in Österreich setzen sich prekäre Arbeitsverhältnisse und nicht durchgängige Erwerbsbiographien ungebrochen in den Systemen sozialer Sicherung fort. Dem stark am Versicherungsprinzip und am männlichen Ernährerhaushalt ausgerichteten Sozialstaatsmodell fehlen echte Mindestsicherungselemente sowie universelle Leistungen und es mangelt an Bildungschancen unabhängig sozialer Herkunft, eigenständiger Existenzsicherung für Frauen und einer Demokratisierung des Wohlfahrtsmodells mit stärkeren partizipativen Elementen. Die neuen sozialen Risken («new social risks») liegen quer zu den klassischen Risken sozialstaatlicher Sicherungssysteme: neue Selbständige, prekäre Beschäftigung, Lebensrisiko Pflege, Behinderungen und Migration.
Neue soziale Herausforderungen brauchen eben auch neue soziale Antworten. Was aber jetzt in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise passiert ist etwas anderes: Dort, wo die armutspräventive Wirkung des Sozialsystems ausgewiesen ist, wird gekürzt, und dort, wo Fehlentwicklungen und Armutsfallen im Sozialstaat auftreten, herrscht Reformverweigerung. Die Schwächen werden verstärkt, die Stärken geschwächt.
Von Schlüsseln und Schlössern
Eine Studie der Wirtschaftsuniversität Wien (Dawid und Heitzmann, 2006) hat ergeben, dass Armutsbekämpfung erfolgreich ist, wo der Mensch als Ganzes gesehen wird. Wer mit Arbeitslosen zu tun hat, denkt an Bildung, an Existenzsicherung, an Wohnen, Familie, Gesundheit. Wer mit Gesundheitsfragen von Armutsbetroffenen zu tun hat, sorgt sich um Beschäftigung, nicht schimmlige Wohnungen, Bildung, Erholungsmöglichkeiten und eine Lösung der stressenden Existenzangst. Zum Beispiel darf sich Arbeitsmarktpolitik paradoxerweise eben nicht nur um den Arbeitsmarkt drehen. Erfolgreich sind bei Personen mit vielfachen Problemlagen gerade jene Ansätze, die auch an den anderen Dimensionen ansetzen: Gesundheit, Freundschaften, Erholung, Wohnen etc. Davon kann besonders die Politik lernen: Statt sektoral und in eingeschlossenen Handlungsfeldern besser in Zusammenhängen denken: Gesundheitspolitik ist Wohnungspolitik, Bildungspolitik ist Sozialpolitik, Stadtplanung ist Integrationspolitik.
Dafür braucht es einen ganzheitlichen Approach, einen integrierten Ansatz, die Fähigkeit, in Zusammenhängen zu denken. Mit einseitig geht gar nichts. Mit einem Faktor allein tut sich kaum was. Erst das Zusammenspiel mehrerer richtig gesetzter Interventionen zeigt Wirkung.
So vermeiden zum Beispiel die höchsten Familiengelder allein Armut nicht, sonst müsste Österreich die geringste Kinderarmut haben; die hat aber Dänemark; mit einer besseren sozialen Durchlässigkeit des Bildungssystems, einem bunteren Netz von Kinderbetreuung wie auch vorschulischer Förderung und höheren Erwerbsmöglichkeiten von Frauen. „Arbeit schaffen“ allein vermeidet Armut offensichtlich nicht, sonst dürfte es keine Working Poor in Österreich geben. Eine Familie muss von ihrer Arbeit auch leben können. Und Anti-Raucher-Kampagnen allein vermeiden das hohe Erkrankungsrisiko Ärmerer offensichtlich nicht, sonst würden arme Raucher nicht früher sterben als reiche Raucher. Deutschlernen allein reduziert Armut und Ausgrenzung allein offensichtlich auch nicht, sonst müssten die Jugendlichen in den Pariser Vorstädten bestens integriert sein, sprechen sie doch tadellos Französisch, es fehlt aber an Jobs, Aufstiegsmöglichkeiten, Wohnraum, guten Schulen. Ein Schlüssel braucht immer auch ein Schloss. Die einen investieren nur in Schlüssel, die anderen nur in Schlösser, und dann wundern sich alle, dass die Türen nicht aufgehen.
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