Regierungsverhandlungen in der Krisengesellschaft
Eine blitzförmige Narbe steht auf Harry Potters Stirn. Die Verletzung wurde ihm als Baby zugefügt, als Voldemort, der mächtige dunkle Lord, ihn zu töten versuchte. Diese Narbe schmerzt Harry noch immer, und sie erinnert ihn beständig an seine Mutter, die starb als sie sich schützend vor ihr Baby warf. Die Narbe sagt, du bist verletzlich. Kein unverwundbarer Held, kein Panzer auf zwei Beinen. „Du brauchst dich für das, was du fühlst nicht zu schämen, im Gegenteil, die Tatsache, dass du Schmerz wie diesen empfindest, ist deine größte Stärke“, so versucht der Direktor der Zauberschule Harry zu ermutigen, seinen Schmerz zuzulassen.
Krisen sind Einschnitte und Übergänge, besonders aber sind sie Abschiede. Es sind Trennungen, es sind Verluste. Wo aber ist Platz für den Schmerz darüber? Wo können wir die Bitterkeit schmecken? In Krisengesellschaften wird Tag für Tag, Stunde für Stunde über Abschiede verhandelt ohne sie zu begreifen. Und ohne jede gemeinsame Trauerarbeit. Wir alle haben mit Verletzungen in unserem Leben zu kämpfen. Verletzungen können durch Ressentiments weitergetragen werden, wodurch sie noch mehr Schaden verursachen. Sie können unterdrückt werden und so den Fluss des Lebens zum Stillstand bringen. Oder sie können angenommen werden und so für die Herausforderungen des Lebens frei machen.
„Ich vermute, einer der Gründe, warum Menschen so hartnäckig an ihrem Hass festhalten, ist, weil sie spüren: wenn der Hass einmal verschwunden ist, werden sie gezwungen sein, sich mit Schmerz zu beschäftigen“, bemerkte Schriftsteller und Bürgerrechtsaktivist James Baldwin. Das gilt für Hassprediger, aber das gilt umgekehrt auch für uns alle in anderer Form. Es ist zur Zeit keine leichte Situation. Im Untergrund läuft ja noch immer Corona irgendwie weiter. Viel Schmerz und Kränkung ohne Trauerarbeit. Dazu die nahen Kriege und die Unübersichtlichkeit der Teuerungen. Jetzt wirtschaftliche Probleme und Krise. Für autoritäre Politiken ein fatal fruchtbarer Boden. In diesen Augenblicken sind Dinge politisch durchsetzbar, die sonst bei Verstand, Abwägung und Verhältnismäßigkeit nie gingen. Weil der Schmerz so groß ist.
Erika kennt Krisen. Erika lebt in Salzburg mit zwei Kindern. Sie ist alleinerziehend und arbeitet halbtags im Handel. Das Wohnen ist unleistbar, die Wohnkosten immens. Einmal ist sie schon umgezogen für eine niedrigere Miete. Eines ihrer Kinder ist chronisch krank, cystische Fibrose, eine Stoffwechselerkrankung, bei der die Lunge verschleimt. Für Erika war es nicht leicht, einen Kindergarten- und Schulplatz für ihren Sohn zu finden. Nur mit gesicherter Betreuung kann er auch über Mittag bleiben. Erika wäre dann nicht länger zur Teilzeit gezwungen, sie möchte mehr Stunden erwerbstätig sein. Als alleinerziehende Mutter mit einem kranken Kind ist es finanziell sehr eng. Lücken gibt es auch bei kassenfinanzierten Therapien. Was wäre, wenn Erika am Tisch von Regierungsverhandlungen sitzen würde? Was würde sie sagen? Was würde ihr helfen? In ihr verdichten sich die Baustellen für eine neue Regierung: Leistbares Wohnen und Energiekosten, Therapielücken und Mehrklassenmedizin, Aufstiegschancen und bessere Schulen, Unterhaltssicherung und Kinderhilfen.
Sorgen macht sich Erika wegen der Kürzungen. Wird das Arbeitslosengeld jetzt insgesamt noch weiter verschlechtert, die Notstandshilfe wie bei Hartz IV abgeschafft bzw befristet? Dass der Klimabonus weg ist, werden Erika und die Kinder zu spüren bekommen. Leute mit kleinem Einkommen in Stadt und Land haben die höchsten Belastungen durch die CO2-Steuer. Am Land verliert eine Familie mit zwei Kindern 870 Euro. Gerechter wäre es wohl, den Klimabonus einkommensabhängig zu gestalten, anstatt ihn ersatzlos zu streichen. Und ein Budget mit mehr Spielraum bestünde aus einem fairen Mix einnahmen- und ausgabenseitiger Maßnahmen. In den letzten Budgetkonsolidierungen der Jahre 2000 und 2011 betrug das Verhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben jeweils die Hälfte. Volkswirtschaftlich vernünftiger wäre auch am Anfang weniger zu sparen, am Ende des Budgetpfads dafür mehr, um die schwache Konjunktur nicht noch weiter abzuwürgen. Das unnötig aggressive Sparpaket zu Beginn erhöht das Risiko, dass die Wirtschaft ein drittes Jahr in Folge schrumpft. Die lohnende Herausforderung ist, die Konjunktur nicht abzuwürgen, sondern Impulse zu setzen, die Arbeitslosigkeit nicht zu erhöhen, sondern ihrem Anstieg entgegenzuwirken, die Schere zwischen Arm und Reich nicht zu vergrößern, sondern noch Investitionen für die schmerzhaften Lücken im Sozialstaat bereit zu stellen.
„Du bist verletzlich“, sagen die großen Menschheitsgeschichten. Die Achylesferse erinnerte den griechischen Kämpfer Achyl daran, und trotz Bad im Drachenblut fiel Siegfried das Lindenblatt auf die verletzliche Schulter. Oder die Geschichte vom Baby in einem Stall – stark und zerbrechlich zugleich. Wer selbst verletzlich ist, kann auch die Verwundbarkeit des anderen wahrnehmen. Unverwundbarkeit ist gar nicht möglich und zu wünschen ist sie auch nicht. Unverletzlichkeit birgt die Gefahr der Gnadenlosigkeit in sich. Und gebiert gepanzerte Körper auf zwei Beinen in Politik, Gesellschaft und Regierungsverhandlungen.
Erschienen in der Wochenzeitung Die Furche, „Armut und Verletzlichkeit: Woran die Regierungsverhandler denken sollten“, 03.02.2025