Zuhause in der Welt – die Erinnerungen des Ökonomen und Sozialphilosophen Amartya Sen.
Das Nobel-Museum fragte den frisch gebackenen Preisträger um eine Dauerleihgabe. Amartya Sen, gerade mit dem Wirtschaftsnobelpreis geehrt, spendete sein altes Fahrrad und eine Ausgabe des indischen Mathematik-Klassikers Aryabhatiya. Das in Sanskrit abgefasste Werk aus dem Jahr 499 war ihm stets hilfreich gewesen, begründete der rund um Kalkutta aufgewachsene Sen seine Wahl. Und das Fahrrad, das er als Jugendlicher geschenkt bekommen hatte, habe ihm ermöglicht, Daten über Löhne und Preise an unzugänglichen Orten wie alten Bauernhöfen und Lagerhallen zu sammeln, als er die bengalische Hungersnot untersuchte. Mit diesem Fahrrad habe er auch die Waage transportiert, mit der er Buben und Mädchen wog, um Unterschiede bei Mangelerscheinungen zwischen den Geschlechtern zu prüfen. „Das Fahrrad fuhr ich über 50 Jahre – bis 1998, als das Nobelmuseum es in Verwahrung nahm“, erzählt der Ökonom und Sozialphilosoph Amartya Sen in seinen in Buchform erschienen Erinnerungen.
Als zehnjähriger Bub bekam er die große Hungersnot im damaligen Bengalen einschneidend mit. Die Straßen waren voll von ausgezehrten, notleidenden Menschen. „Zum ersten Mal in meinen Leben sah ich Leute wirklich Hungers sterben“. Wie fast alle Hungersnöte war auch die bengalische von 1943 eine „klassenbasierte Katastrophe“ (Sen), wohlhabende Familien waren nicht betroffen, einkommensarme massiv. „Der Alptraum ließ in mir den Entschluss reifen, alles zu tun, was ich konnte, damit Hungersnöte nie mehr vorkamen“, schreibt Sen. Seine geliebte Großmutter erzählte dem Buben von einer Mutter, die furchtbar weinte, während sie etwas zu essen, das sie von irgendwoher ergattert hatte, selber verschlang, anstatt es dem ausgemergelten Kind auf ihrem Schoß zu geben. „Der Hunger erzeugte eine Art von moralischer Degeneration bei den Leuten, denen die völlig ihrer Kontrolle entglittenen Umstände schwer zusetzten“. Amartya Sen untersuchte eine Reihe von Hungersnöten. Seine Ergebnisse waren bahnbrechend für neue effektivere Maßnahmen zur Verhinderung von Hunger. Seine überraschende Erkenntnis: Hungersnöte entstehen nicht, weil es zu wenig Nahrung gibt. Hunger heißt, dass die Armen kein Geld haben, sich etwas Essbares zu kaufen. Er stellte den bisherigen Zugängen einen neuen Ansatz gegenüber, in dessen Zentrum legale Ansprüche auf Nahrung stehen. Menschen können Nahrungsmittel selbst produzieren, eigene Ressourcen gegen Nahrung tauschen oder mit staatlicher Unterstützung versorgt werden. Hunger entsteht, wenn die eigenen Ressourcen oder ihr Tauschwert sinken und der Staat keine ausreichende Kompensation bereitstellt.
Der Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore gründete Anfang des 20.Jahrhunderts eine Schule in Shantiniketan, Westbengalen. Die Vorlesungen und Seminare wurden unter Mangobäumen im Freien abgehalten. Hier wurde Sen geboren, dort wuchs er auf, dort ging er zur Schule. Noch bevor der Junge Englisch sprach, lernte er Sanskrit. Und er atmete die Luft der Dichterschule mit Naturwissenschaften, Philosophie und viel Argumentieren.
Eine Zeit lang wurde Armut als Mangel an Gütern definiert. Sen argumentierte hingegen, dass es auch um die Fähigkeit gehe, diese Güter in Freiheiten umzuwandeln. Und zwar in Freiheiten von Menschen, ihre Vorstellungen von einem guten Leben zu verwirklichen. Denn Güter sind begehrt um der Freiheiten willen, die sie einem verschaffen. Zwar benötigt man dazu Güter, aber es ist nicht allein der Umfang der Güter, der bestimmt, ob diese Freiheit vorhanden ist. Die Möglichkeit, seine Vorstellungen von einem guten Leben zu verwirklichen, hängen auch von gesellschaftlichen Strukturen, Lebensgewohnheiten, sozialen Techniken und dem allgemeinen Reichtum ab. Fasten ist nur dann Fasten, wenn die Möglichkeit etwas zu essen offen steht, sonst sind wir beim Hungern. Der Zustand der Unterernährung mag der gleiche sein, aber die Möglichkeiten, die die Personen haben, unterscheiden sich. Den Unterschied zwischen Hungern und Fasten macht die Freiheit. Armut ist ein Mangel an „Verwirklichungschancen“ (Sen). Armut ist eine der existenziellsten Formen von Freiheitsverlust. Von Freiheit können wir erst dann sprechen, wenn auch die Freiheit der Benachteiligten eingeschlossen wird. Maßnahmen, die die Handlungsspielräume der Betroffenen torpedieren, schaden der Armutsbekämpfung. Sen spricht von Betroffenen als „agents“, als Handelnde, die nicht zu Objekten gemacht werden dürfen.
Amartya war 11 Jahre alt. Er war allein zu Hause. Da stürzte ein Mann, stark blutend und schreiend vor Schmerzen, durch die Tür hinein. Der Mann, ein muslimischer Tagelöhner, war durch Messerstiche in den Rücken schwer verwundet worden. Er war auf offener Straße im vornehmlich von Hindus bewohnten Viertel niedergestochen worden. Der lebensgefährlich verletzte Mann bat um etwas Wasser und Hilfe. Der kleine Bub rannte los und schrie nach den Eltern. Sein Vater brachte den Verwundeten ins Krankhaus, aber jede Hilfe kam zu spät, der Mann starb an der Messerattacke. Dass Menschen, die Jahrzehnte friedlich und freundschaftlich miteinander lebten, plötzlich zu Feinden werden, weil eine spezifische Identität zum einzigen Zentrum ihres Lebens wird, hat Sen ein Leben lang bewegt. Diesen Zwang zur Alles oder Nichts-Identität hat er später als „pluralen Monokulturalismus“ bezeichnet. Das meint, dass ganze Bevölkerungsgruppen von einer einzigen Kultur und einer einzigen Identität ausgehen, derer sich alle einzufügen haben. Sie kann durch Blut, Herkunft oder Religion bestimmt sein. Menschen müssen aber die Freiheit haben, sich für oder gegen Herkunft oder traditionsbedingte Vorgaben entscheiden zu können. Das ist Grundlage für die demokratische Verfasstheit einer Gesellschaft. Und auch Glaubende, ob sie zu Gott, Jahwe oder Allah beten, sind immer auch Frauen und Männer, Arme und Reiche, Privilegierte und Benachteiligte, Mächtige und Ohnmächtige. Das ist wichtig, weil es zeigt, dass wir als Menschen mehrere Identitäten mit unserer je eigenen Geschichte, unseres Geschlechts, unserer Schichtzugehörigkeit, unseres Berufes aufweisen. Und Menschen entscheiden können, dass ihre ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit weniger wichtig ist als ihre politische Überzeugung, oder ihre beruflichen Zusammenhänge, oder ihre Rolle als Frau, oder ihre gewählten Freundschaften. All das und vieles mehr zeigt: Kultur entsteht aus Vermischung. Kultur ist und bleibt nicht homogen; innerhalb einer jeden Kultur gibt es starke Widersprüche, Unterschiede und Abweichungen. Und: Kultur steht nicht still. Sie verändert sich mit der Zeit. Das Beharren auf ewigen pluralen Monokulturen „gleicht dem aussichtslosen Bemühen, den Anker der Kultur an einem schnell dahintreibenden Boot festzumachen“ (Sen).
Der Titel seiner Erinnerungen „Zuhause in der Welt“ ist auch eine Verneigung vor dem Schriftsteller Rabindranath Tagore, der vor hundert Jahren einen Roman mit ähnlicher Überschrift veröffentlicht hat. Er habe sowohl „der überwältigenden Bedeutung instinktiven Mitgefühls als auch der Überzeugungskraft logischen Denkens gleichermaßen Beachtung geschenkt“. Amartya Sens viel benütztes Fahrrad und sein Sanskrit Mathematik Buch zeugen davon.
Erschienen in: Die Furche, Kein Essen für die Armen, 25.04.2023