Krawalle: Paris ist nicht so weit

Jugendliche zertrümmern Straßenlaternen, dringen in Schulen ein und liefern sich Straßenkämpfe mit der Polizei. In den Wiener Vorstädten Hernals und Ottakring brennen Feuer vor den Schulen, die von aus den Klassenzimmern geworfenen Katalogen, Büchern und Heften genährt werden. Überall bietet sich das gleiche Bild der Zerstörung. Die Realschule am Schuhmeierplatz wird gestürmt, in Brand gesetzt, der Turnsaal geplündert, Schulmaterialien werden auf die Straße geworfen. Kinder und Jugendliche, überwiegend Zwölf- bis Vierzehnjährige, besetzen die Volksschulen am Hofferplatz und in der Koppstrasse, die Realschule in der Possingergasse und in der Thalhaimergasse. Auf die Polizei und das mobilisierte Militär werfen sie Steine und was sie sonst an Wurfgeschossen finden. Wir schreiben das Jahr 1911.

 

Die Unruhen sind infolge von Brotpreiserhöhungen aufgeflammt. Die Tagespresse spricht von einer „Knabenrevolution“, einer „Bubenschlacht“, einer „Revolte der Ottakringer Jugend“. Das Polizeiprotokoll vom Tag vermerkt, „dass die Elemente in dem gewaltsamen Widerstande gegen die Staatsgewalt von einem Teile der Bezirksbevölkerung auf das Wirksamste unterstützt und zur Fortsetzung ihrer Widerspenstigkeit angefeuert wurden“.

„Die Einschätzung, dass es sich größtenteils um eine Revolte der Ottakringer Gassenkinder der untersten sozialen Schichten gehandelt habe, wird durch eine von der Polizei vorgenommene Auflistung des Altersprofils der Verhafteten gestützt“, so zitieren Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner in ihrer Arbeit „Anarchie in der Vorstadt“ die Polizeiaufzeichnungen vom 17. September 1911. Die Jugendlichen sind Kinder von Hilfsarbeitern, Arbeitslosen, Bettgehern, Dienstboten. Ihre absehbare Zukunft ist jedenfalls die von Hilfsarbeitern, Arbeitslosen, Bettgehern und Dienstboten. Ein Großteil ihrer Eltern kommt aus den verschiedenen Kronländern der Monarchie, die überwiegende Anzahl aus Böhmen und Mähren. Migrantenkinder, die keine sozialen Aufstiegschancen haben und mit beträchtlicher Ablehnung der Eingesessenen wie der Eliten kämpfen müssen. Für die romantische Vorstellung vom Schmelztiegel Donaumonarchie wird erst 80 Jahre später Zeit sein.

„Niedrige berußte Gänge, nirgends Hausgärten, und in den neueren Bauten Thür an Thür die kleinen Wohnungen, die Kerker der Kinder“, berichtet Max Winter in seinen Stadtreportagen über die sozial segregierten Wiener Außenbezirke. „Im Grunde genommen dieselbe düstere Geschichte, dasselbe trostlose Geschick, die gleiche drückende Sorge. Hier die Heimarbeiterin, die in ihrem Kabinett noch den krüppelhaften Mann liegen hat, dort die Witwe, die alle überlebt hat, auch ihre Kinder, als Blick in die eigene Zukunft dienend der jungen Proletarierin, die das benachbarte Gelaß bewohnt: ein Kabinett gegen acht Kronen und etliche Heller Monatsmiete.“

Die Arbeitslosen und Gelegenheitsarbeiter in Ottakring, Hernals oder Meidling haben es noch schlechter getroffen als diejenigen, die zumindest einen kleinen Job den ihren nennen dürfen: „Im Dunkel des Frühmorgens eilen sie in die Stadt, in der Schulerstraße, wo die Zeitungsinserate ausgehängt sind, dann zu den genossenschaftlichen Arbeitsvermittlungen und zum städtischen Vermittlungsamt, laufen sich die Füße wund im Wettlauf ums Brot, um dann noch mehr entmuthigt heimzukehren zu den hungernden Kindern, zu der sorgenerfüllten Mutter.“

Die Krawalle haben sich an der wiederholten Erhöhung der Brotpreise entzündet. Alles wird teurer, nur der Lohn nicht höher, die Miete nicht geringer und die Aussicht, da einmal rauszukommen, nicht besser. „Das Budget der meisten Familien ist in Unordnung gebracht, weil in ihm die hohen Preise für die unentbehrlichsten Lebensmittel wie Fleisch, Mehl, Milch, Eier, Fette, kurz für fast alle Nahrungsstoffe und die nahezu unerschwinglichen hohen Mietpreise keinen Raum finden“, konstatiert die „Neue Freie Presse“. Schlechte Wohnverhältnisse, hohe Mieten und drückende Wohnungsnot machten sich besonders in den Vorstädten Hernals, Ottakring, Fünfhaus und Rudolfsheim existenziell mit sozialer Verelendung bemerkbar. „Ihre Liebe ist das Brot, ihr Ehrgeiz ein Lager für die Nacht, ihr Hass aber die satte Gesellschaft“, so Ernst Kläger in seiner Reportage über Quartiere der Not und des Verbrechens.

Ein 20-jähriger Bursch aus Slowenien lebt um 1900 in Untermiete bei einer Näherin in Ottakring. Später, in seinen literarischen Texten, wird Ivan Cankar die Zeit im Vorstadtelend Wiens so beschreiben: „Die Häuser sind hoch und langweilig; die Leute, die hier entgegenkommen, sind schlecht gekleidet, ihre Wangen sind hohl, und ihr Blick ist unzufrieden. Diese öde Vorstadt erstreckt sich im Umkreis.“ In der Romangestalt Jereb setzt sich Cankar autobiografisch mit den Minderwertigkeitsgefühlen, der Verunsicherung, der Scham, aber auch der Stärke, der Wut, der Verstörung eines jungen Mannes auseinander, der von der Ottakringer Vorstadt auf die Ringstraße des Zentrums trifft. „Doch anders war es, wenn er zufällig und unverhofft auf eine große Straße mit hohen, reichen Gebäuden und elegantem Publikum geriet. Er kroch gleichsam in sich, er beugte den Kopf, und mit Händen und Füßen wusste er nichts mehr anzufangen. Er schämte sich, er fühlte sich klein, verwahrlost, lächerlich; als würde er mit seinem Äußeren, seinem fadenscheinigen Anzug, seinem ängstlichen Vorstadtgesicht und seinen linkischen Gebärden das elegante Antlitz der Großstadt entstellen und verschandeln.“

Die Wohnräume von Arm und Reich sind klar segregiert. Innerhalb des Rings Adel, Hof und Besitzende, innerhalb des Gürtels Beamte, Wissenschaft und Gewerbetreibende, und dann die Vorstadt mit ihrem Arbeitslosenheer, mit Bettgehern, Migranten, Prostituierten, Jugendbanden und Verelendeten. Peripherie und Zentrum stehen einander undurchdringbar gegenüber. Die außen passabel wirkenden Gründerzeithäuser in den von den Innenstädtern gemiedenen Außenbezirken verbergen die dahinter liegende sozialen Problemlagen. „Alles schön, alles neu, wer sollte denken, dass er beim Betreten der ersten Wohnung krassestem sittlichem und sozialem Elend gegenübersteht“, beschreibt Max Winter seine Eindrücke. Da ist Architektur nur Fassade. Der Schein trügt nicht nur, er betrügt die Bewohner um ein besseres Leben. Auf paradoxe Weise sind die am meisten Ausgegrenzten die am stärksten Eingegrenzten. In Wien 1911 genauso wie in Paris 2005. Die Bürgermeister von Paris bemühten sich sehr, die sozial Schwachen aus dem Zentrum der Stadt an den Rand und darüber hinaus in die Ile de France abzudrängen. Das wurde später mit Stararchitektur gekrönt. Die Fassade stimmte.

Ein Schuldiener in Ottakring gibt an, in jenen Tagen im September 1911 den aus dem Rotwelsch entlehnten Ruf „Es wird jung!“ vernommen zu haben. Rotwelsch ist eine stark an das Jiddische angelehnte Sondersprache sozialer Randgruppen in Wien wie Vagabunden, Hausierer, Bettler, Kleinkriminelle. Sie ist eine eigene Sprache für ein Viertel oder eine ganze Bevölkerungsgruppe – wie „verlan“, der Jugendslang der Pariser Vororte. Die Funktionsweise des „verlan“ ist selbst schon Programm: Sie beruht auf der Subversion, der Umkehrung. So wird „français“ verlanisiert zu „cefran“, „bonjour“ heißt „jourbon“ und „bus“ einfach „sub“.

Ich richte mich an meine Brüder, die am Existenzminimum leben. / Wir dürfen uns nicht weiterentwickeln, weil wir schwarz sind. / Du verstehst, dass mein Hass vom Schmerz genährt wird. So rapt Hip-Hopper Monsieur R. auf seinem neuen Album „Politiquement Incorrect“.

Eine Jugend, die sich um ihre Zukunft bedroht weiß, als minderwertig und als überflüssige Unterschicht gehandelt wird, kaum Jobs kriegt, auch wenn sie eine Ausbildung hat. Wenn ganze Bevölkerungsgruppen über zwei, drei Generationen keine sozialen Aufstiegschancen bekommen, sie sich räumlich und über bestimmte Merkmale wie Herkunft, Religion oder Kultur zu definieren beginnen und wenn die Kinder dieselben Jobs und dieselben miesen Einkommen haben wie ihre Eltern und wenn die Kinder der Kinder merken, dass sie dieselben Jobs und dieselben miesen Einkommen wie ihre Großeltern haben werden. Immer dann braucht es nur einen Funken kollektiver Kränkung, und es brennt.

1967 brachen schwere „riots“ schwarzer Jugendlicher in den USA los, in Los Angeles eskalierte in den Neunzigerjahren die Situation nach dem Freispruch zweier Polizisten, die bei einer Verkehrskontrolle einen Schwarzen niedergeschlagen hatten.

Es gibt eine doppelte Grenze. Die erste an der Staatsgrenze, die zweite Grenze aber geht mitten durch das Land. Sie bahnt sich den Weg durch Kindergärten, Schulen, Städte und Zeitungen. Eine neue Gruppe von „Überflüssigen“ ist entstanden, man braucht sie nicht einmal als billige und willige Arbeitskräfte. „Ich habe mein Leben in den Abfalleimern begonnen“, rapt Akhenaton aus Marseille.

Es geht augenscheinlich um Selbstvergewisserung. Die Überflüssigen sagen: Wir existieren. Es gibt uns. Die Jugendlichen in den Straßen der Banlieues, meist zwischen zwölf und 16 Jahre alt, sprechen selbst von „sga“. Das bedeutet auf Arabisch „Aufschrei“.

Werthaltungen entscheiden, wie wir die Motivation von Gewalt interpretieren, nicht die Gewalt selbst, die sich das Objekt sucht. Wenn man Gewalt prinzipiell ablehnt, ist es egal, welches Objekt die Gewalt gefunden hat. Es bleibt aber, die Bedingungen zu analysieren, die zu bestimmten Gewaltformen führen, den sozialen Raum auszuleuchten, der ähnlich wiederkehrende Manifestationen hervorbringt.

Gemeinsam ist diesen Aufständen, dass sie von Jugendlichen, fast noch Kindern getragen werden. Gemeinsam ist, dass das Ziel der Gewalt öffentliche Einrichtungen und sichtbare Insignien der Konsum- und Alltagskultur darstellen. Überall fehlen soziale Aufstiegschancen über Generationen. Überall gibt es eine starke sozialräumliche Segregation in bestimmten Vierteln und die Teilung in Peripherie und Zentrum. Gemeinsam ist das kollektive Erleben von Diskriminierung und Kränkung des Selbstwerts. Gemeinsam sind chronische Entmutigungserfahrungen. Sichtbar wird die mangelnde Repräsentation ganzer sozialer Gruppen in den öffentlichen, politischen und medialen Eliten. Gemeinsam ist ein männlicher bis machistischer Ehrbegriff. Gemeinsam der Ausfall der Eltern als Vorbilder, weil sie es eben auch nicht „geschafft“ haben. Auffallend, dass die Jugendrevolten so wenig religiös motiviert sind, wie wenig sie als bürgerrechtlich inspirierter Protest angelegt sind. Das heimliche Motto ist ihnen allen: Es gibt nichts mehr zu verlieren.

Warum revoltieren die Jugendlichen nicht in Polen, wo es auch so hohe Arbeitslosigkeit gibt? Weil sie offensichtlich mehr zu verlieren haben. Weil es eben immer um relative Ungleichheit geht, um relative Lebenslagen, um den Vergleich, um Ausschluss, um Kränkung. Armut im Reichtum, Diskriminierung in postulierter Gleichheit, abhängige Herkunft bei versprochener Zukunft. Das zeigt, wie sinnvoll es ist, Armut nicht nur absolut, sondern auch relativ zu messen. Teilhabe, Repräsentation und Mitbestimmung sind zentrale Parameter für soziale Ausgrenzung. Und für alle damit verbundenen Gefühle.

Ende der Sechzigerjahre wurden in Washington die Ergebnisse einer vom US-Präsidenten eingesetzten Untersuchungskommission präsentiert. Martin Luther King hatte sich gerade nach Memphis aufgemacht, die Proteste schwarzer Arbeiter nach Lohnauszahlung zu unterstützen: „Die meisten Zeitungsartikeln und TV-Programme ignorieren die Tatsache, dass ein wesentlicher Teil ihrer Zuschauer und Leser schwarz ist. Die Welt, die das Fernsehen und die Presse präsentiert, ist fast ausschließlich weiß. Das ist vielleicht verständlich in einer Branche, in der nahezu ausschließlich Weiße die Nachrichten redigieren und zum größten Teil auch schreiben. Eine solche Haltung wird jedoch in einem Bereich, der so sensibel und leicht entflammbar ist, die Entfremdung der Schwarzen verstärken und weiße Vorurteile intensivieren.“ Die Analyse von damals ist interessant und aktuell, weil Migranten hierzulande als Selbstsprecher nicht vorkommen. Sie sind unsichtbar gemacht.
In Österreich gibt es kaum Migranten im ORF, als Schauspieler, im Parlament, in den Zeitungsredaktionen. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind in Redaktionsstuben, in den politischen Parteien, in den großen NGOs, als Lehrer, im Film nicht repräsentiert. Sie sind da und dürfen nicht ankommen. Da ist Paris gar nicht so weit. Republikanische Gleichheit im Mund, aber soziale Apartheid in der Praxis. Bei uns: Integration im Mund, „Gastarbeiterpolitik“ im Alltag. Arbeitnehmer mit Ablaufdatum bis heute.

Sind die Jugendlichen in Paris denn nicht verantwortlich für die Gewalt? Sicher sind sie das. Sie zerstören Autos, Kindergärten und Schulen, die ihre Nachbarn brauchen. Die Unruhen werden sich gegen sie selbst richten, wenn nicht die „brennenden“ Probleme bürgerrechtlich aufgegriffen werden. Ohne eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die Forderungen stellt und sich öffentlich artikuliert, wird es keinen weiteren Druck für Verbesserungen geben. Die einen werden bei den jugendlichen Randalierern die Jugendlichen sehen, die anderen die Randalierer. Der Rechtsstaat wird die Gefassten verurteilen, die Eliten werden zur Tagesordnung übergehen.

 Können in Wien auch Autos brennen? Nur wenn nichts passiert, kann etwas passieren. Die richtige Frage aber wäre: Wie können wir dem Rad sozialer Aus- und Eingrenzung in die Speichen fallen.

Im September des Jahres 1911 ist das Gebräu aus Armut, Kränkung, Ausgrenzung und blockierter Zukunft im Chemiesaal der Staatsrealschule Possingergasse am Explodieren. Die Tageszeitungen berichten: „Die Gewandtesten und Flinkesten dringen in den Garten vor, und ehe sich noch ein Mensch versieht, haben sie die sehr hoch gelegenen Parterrefenster, deren Scheiben längst zertrümmert sind, erklettert und sind in das Schülerlaboratorium für den Chemieunterricht eingedrungen. Hier findet ihre sinnlose Wut der Zerstörungsobjekte genug. Alle Tische sind voll Flaschen von Säuren und Chemikalien. Tschintschin!“

Erschienen in: Die Presse, Spectrum, November 2005

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