Jetzt im Sommer, wenn Urlaub ist, kommt die Mama auch nicht nach Hause. Mama bleibt in Italien beim fremden Kind. Und Papa in Sibirien auf seiner Baustelle. Cristina kümmert sich um alles, sie kocht und putzt, sie füttert die Schweine, die Hühner und die Hunde, und wenn es sein muss, dann prügelt sie sich auch mit den Buben, um Dan und Marcel zu verteidigen. Dan und Marcel sind Cristinas Brüder, und sie selbst ist gerade einmal zwölf. Ein Mädchen, das versucht, Ersatzmutter und Vater zu sein, während die Mutter in Italien als Kindermädchen arbeiten muss und der Vater in Sibirien einen Job angenommen hat. Die Großmutter wäre da, aber sie ist schwer dement.
„Das Warten ist wie ein kleines Tier, weder ein Haustier noch ein wildes Tier, mal brav und schläfrig, mal böse und entfesselt“, sagt Cristina. Der Roman folgt den Gedanken und Eindrücken des jungen Mädchens, nicht formuliert in der Sprache einer Zwölfjährigen, aber einprägsam gezeichnet in den farbigen Bildern ihrer Lebenswelt. Die Autorin Liliana Corobca ist in einem kleinen Dorf in Moldawien aufgewachsen, lebt jetzt in Bukarest. Ihr Roman, der in Rumänisch den mehrdeutigen Originaltitel „Kinderland“ trägt, wählt in der deutschen Übersetzung am Cover das Bild des Horizonts. Cristina erzählt wie sie auf die Hügel vor ihrem Dorf steigt und eine Entdeckung macht. Auf dem Gipfel des Hügels sieht sie einen neuen, einen anderen Horizont. Im Hof und im Haus sei Luft, hier aber sei Himmel. „Am Horizont gehört alles dir“, berichtet sie von ihrem Erlebnis.
Im Haus und im Hof regieren Alltag und viel Traurigkeit. „Wenn ich sehe, wie meine Brüder die Fotos der Eltern anschauen, fühle ich eine Tonne Tränen in meinem Bauch, ließe ich sie heraus sie würden das ganze Dorf überschwemmen.“ Cristina hat eine Strategie entwickelt. Nicht weinen, wenn man zu tun hat. Viel spielen, viel aufräumen, viel herum sein. Programm machen. Die Zeit zum Weinen wird mit acht Uhr abends festgelegt. „Es ist besser so.“ Immer funktioniert das aber nicht. Bruder Marcel kommt mit Foto um punkt acht Uhr ins Zimmer. Genau in dem Augenblick als ein spannender Film im Fernsehen beginnen soll.
Rund 100.000 Kinder sind es in Moldawien, die nur mit einem Elternteil aufwachsen oder sogar ganz ohne. In Buruienești im Nordosten Rumäniens hatten von den 301 Kindern, die in die Schule des Dorfes gingen, 119 einen Elternteil in einem anderen Land; bei 67 die Mutter, bei 19 der Vater und bei 33 beide Eltern.
Auch Österreich ist Zielland von Pflegekräften wie Cristinas Mama. In einer Art globalen Betreuungskette übernehmen Arbeitsmigrantinnen hier Betreuungs-, Pflege- und Haushaltsaufgaben, während zugleich ihre eigenen Kinder im Heimatland bleiben und dort von Familienangehörigen oder Angestellten betreut werden. Oder von niemanden. Getragen werden diese Care-Ketten ausschließlich von Frauen. Die Männer sind kaum involviert. Es entsteht eine Betreuungskette aus drei oder mehr Frauen, wobei in jeder Stufe der Betreuung der Lohn abnimmt und die letzte Betreuerin oft unbezahlt tätig ist. Die Kinder sind unter dem Schlagwort »Euro-Waisen« berühmt geworden. In Polen wurden durch die hohe Migrationsrate zwanzig Prozent der Kinder von anderen Personen als ihren Eltern betreut. In Litauen heißen die zurückgelassenen Kinder »Irland Kids«, weil besonders viele Mütter nach Irland arbeiten gegangen sind. Dem positiven Aspekt der höheren Einkommen stehen die negativen Konsequenzen prekärer Arbeitsbedingungen und sozialer Isolation entgegen. Ein schwieriges und ambivalentes Arrangement.
Cristina ist ein starkes Mädchen. Sie erinnert ein wenig an Pippi Langstrumpf. Doch hier fehlt das Märchenhafte und vor allem: die Schatzkiste. Wenn man den anderen Horizont sieht, erscheint er einem nicht mehr wie ein Rand, ich stand in der Mitte, sagt Cristina. Als säße ich direkt im Himmel. Am Horizont gehört alles dir.
Rezension
Liliana Corobca: Der erste Horizont meines Lebens, Paul Zsolnay Verlag, 2015.