Die Bitterkeit, die Mutter und das Meer

Über Ressentiments und ihre Heilung.

Hier liegt die Mutter begraben. Daneben die Bitterkeit. Anderswo liegt das Meer. Mit diesen dreien, der Mutter, dem Meer und der Bitterkeit, führt die Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury in den Untergrund des Ressentiments. La mere, l`amer, la mer – im Französischen klingen Mutter, Bitterkeit und Meer zusammen. Die elterliche Trennung, die das Erwachsenwerden umfängt, der Schmerz, dessen Bitterkeit sich nicht von selbst löst, das Meer, das uns die weite See eröffnet. Im Ressentiment sind sie alle drei begraben. Fleury argumentiert für einen „Umgang mit der Bitterkeit, bei der man sich nicht der Illusion der Reinheit oder Absolutheit unterwirft.“ Die Bitterkeit beeinträchtigt den Geschmack. Das ist nicht so einfach. Dieser Geschmack ist aber auch gleichzeitig eine Form der Heilung vom Ressentiment. Denn es kann schnell gehen, dass Nachbarn zu Feinden werden. Wir haben nebeneinander und miteinander gelebt, erzählen Freunde aus dem ehemaligen Jugoslawien. Im selben Dorf, in derselben Straße. Plötzlich gab es kein Gespräch mehr, nur mehr Misstrauen, Ressentiments und Hass. Das Ressentiment schafft Feinde, nicht um sich gegen sie zu verteidigen, sondern um ihren Tod zu wünschen. Autoritäre Systeme errichten gegen das Ressentiment eine Art Mauer, „eine Art abgeschlossenen Bereich mit der Illusion von einer Reinigung, in dem sich eine neue, ihrer Schlacke entledigte Gemeinschaft etablieren wird“ (Fleury). Putin träumt sich ins alte russische Reich, Erdogan ins Osmanenland und Orban beamt sich nach Großungarn zurück. Hierzulande verlegen manche ihre gesellschaftliche Vision ins Österreich der 1960er Jahre. Die vorgestellte Unversehrtheit und verlorene Größe wird in Orte der Vergangenheit phantasiert. Diesen Ort hat es so nie gegeben, er ist tot, eine Fiktion, ein Betrug. Die völkisch „reine“, kulturell homogene Vergangenheit gibt es nicht. Was es aber gab, war eine Vergangenheit, die den Versuch unternahm, sie autoritär und mit Gewalt herzustellen.
Ressentiments wirken wie Drogen. Um dieselbe Wirkung von vorher zu erzielen, muss stets die Dosis erhöht werden. Nietzsche erwähnte bereits des Ressentiments schädliche Wirkung als Vergiftung, Scheler sprach von Selbstvergiftung. „Man kann das Ressentiment durchmachen, aber ihm zu erliegen, auf unbegrenzte Zeit in ihm stecken zu bleiben, bedeutet, sich zum Sklaven zu machen, sich der tödlichen Leidenschaft zu unterwerfen“, schreibt Fleury. Das erinnert an Martin Luther Kings Rede in Washington, als er zu Beginn das Unrecht und die Diskriminierung abruft, derer sich die Schwarzen ausgesetzt wissen. Hier wird der Schmerz und die Bitterkeit verhandelt. Doch dann, wenn die Vergeltung kommen müsste, wechselt King: „Lasst uns nicht den Kelch des Ressentiments und des Hasses trinken, um unseren Durst nach Freiheit zu stillen“. Dann folgt der Blick aufs Meer: „I have a dream.“ Ich habe einen Traum. Dem Ressentiment zu begegnen, heißt auf die See zu schauen, „umherreisen, auf den Horizont zugehen, ein Anderswo finden, um wieder in der Lage zu sein, im Hier und Jetzt zu leben“ (Fleury). Das Ressentiment aber dreht alles allein um sich selbst, vergiftet jeden Fortschritt. So wird der Schmerz zu einem Akt der Selbstunterwerfung, wird die Wut zu einer sich selbst zerfressenden Einübung ins Gehorchen. Versucht ja nicht mich zu überlisten, sagt der in sein Ressentiment verliebte Mensch, der sein Netz spinnt, um sich darin besser zu verfangen. Wir alle haben mit Verletzungen in unserem Leben zu kämpfen. Von Kindheit an. Von Mutter- und Vatertagen an. Verletzungen können durch Ressentiments weitergetragen werden, wodurch sie noch mehr Schaden verursachen. Sie können unterdrückt werden und so den Fluss des Lebens zum Stillstand bringen. Hier liegt die Mutter begraben. Oder sie können angenommen werden und so für die Herausforderungen des Lebens frei machen. Cynthia Fleurys Untersuchung verwebt in sprachlich dichter Form Gesellschaftsanalyse mit Philosophie und Psychologie. Im Kern geht es im Buch um die Zukunft der Demokratie: die Bitterkeit schmecken und das offene Meer sehen.

Erschienen im Spectrum der Presse, Wenn man Feinden den Tod wünscht, 01.12.2023

Dieser Beitrag wurde unter Uncategorized veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.