Was ich lese

„Ich bin immer noch hier wo es regnet und manchmal die Sonne scheint“. Maria, eine arbeitslose Textilfachverkäuferin, sitzt auf der Parkbank vor der Kirche. Ihr Leben läuft rückwärts, an allen Träumen vorbei: an Otto im Gemüsefach, an dem Nacktschwimmer mit dem Fischherz, an Walter, dem Elvis Imitator. Ich stecke den Roman von Anna Weidenholzer in meine Tasche, lese unterwegs ein paar Seiten, blättere im Cafe weiter, hole ihn in der Straßenbahn hervor: „Der Winter tut den Fischen gut“. Meine Bücher liegen an verschiedenen Plätzen. Das eine in der Tasche, das andere befindet sich oben auf dem Schreibtisch. Alain Ehrenbergs „Unbehagen in der Gesellschaft“ zitiert im Titel Sigmund Freuds „Unbehagen in der Kultur“. Die psychischen Leidenszustände verändern sich mit der Zeit. Was einmal die Neurose war ist jetzt Narzißmus und Depression. Die Angst, man selbst zu sein, versteckt sich hinter der Erschöpfung, man selbst zu sein.
Ein anderes Buch wandert derzeit durch die Wohnung, liegt einmal am Küchentisch, im Badezimmer, am Nächtkästchen, dann zwischen den Spielsachen der Kinder. Hans Georg Zilians „Unglück im Glück“, streitbare Essays gegen fortschrittlichen Gesinnungskitsch und halbierte Freiheiten. Till Eulenspiegel würde er gerne öfter sehen, mehr Ironie, mehr Widersprüche und mehr erfahren von Leuten wie Maria, der arbeitslosen Textilfachverkäuferin.

Erschienen in: Die Presse, Spectrum. 01.11.2013

 

 

 

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