Schule: Haltungsfrage im Brennpunkt

Ein kalter Wind bläst mir entgegen als ich von der Londoner U-Bahn Station auf die Straßen von Tower Hamlets trete. Es ist ein frischer Tag im Frühjahr dieses Jahres, das Leben auf den Straßen ist schon zeitig am Morgen geschäftig und laut. Ich biege in die Seitenstraße ein und suche den Eingang einer Schule. Tower Hamlets gehört zu den ärmsten Gegenden Englands. Der Ruf ist nicht der beste. Die Sonne blinzelt erstmals ein wenig durch die graue Wolkendecke. Am Tor der Oakland-School begrüßt mich eine Schar von Kindern und führt mich in den großen Saal, wo die Morgeneinheit für alle beginnt. Was an diesen Schulen in Tower Hamlets auffällt, ist, dass sie in schwierigen Verhältnissen gute Ergebnisse bringen. Das heißt, dass die Kinder viel können, in Bildungsvergleichen gut abschneiden und höhere Abschlüsse machen.

Das war nicht immer so. Eine große Schulreform, genannt „London Challenge“, die in den 2000er Jahren in der britischen Hauptstadt lief, verbesserte die Leistungen der Schüler und Schülerinnen massiv. Von der Region mit den schlechtesten Leistungen der Elf- bis 16-jährigen ist London zu der mit den besten Ergebnissen geworden.

Ein Tag in der Oakland School macht klar, was dafür den Ausschlag gibt. Ganz groß ist das Ziel, Kinder nicht zu beschämen. Zentral im Unterricht ist Leistung und Gerechtigkeit zu verknüpfen. Die Eltern werden offensiv einbezogen. Lehrende bilden Teams, sollen keine Einzelkämpfer sein. Es gibt intensiv gestaltete Fachräume. Und: Kunst und Theater werden als Lernort für Selbstbewusstsein außergewöhnlich stark betont. Die Lehrer erzählen mir warum: Performing Arts bieten die Möglichkeit Rollen auszuprobieren, sich zu behaupten, Rhetorik zu lernen, souveräner sich und eine gemeinsame Sache zu vertreten. Das brauchen die Kinder hier besonders.
Am auffallendsten ist die durchgehende Haltung: „Lass dich nicht unterkriegen. Wir trauen Dir zu, dass Du viel kannst“. Diese Haltung gegenüber den Kindern atmet das ganze Schulgebäude und seine Pädagogen. Das ist alles andere als selbstverständlich, wenn wir die aktuelle Debatte hierzulande ins Auge fassen. Die geht oft so: Die Schüler können nichts, auch die Eltern sind blöd, machen kann man dann eigentlich eh nichts – außer am liebsten Schüler und Eltern austauschen. Die Schuldirektorin in Tower Hamlets kennt diese Haltungsfalle. Da raus zu kommen stand im Zentrum der Schulreform. Wer hier lehrt, muss Kindern alles an Leistung zutrauen. Wer hier arbeitet, darf seine Erwartungen und die der Schüler nicht selbst begrenzen. Hohe Erwartungen sind ganz wichtig. In alle Richtungen. Auch an den Spirit der Lehrkräfte: „We are not doing it because it’s easy, we’re doing it because it’s hard.“
Wir haben jede Schule aufgefordert, drei Punkte zu nennen, in denen sie wirklich gut ist – gut genug, um andere einzuladen, sagen die Londoner Schulrefomer. Wenn man das weiß, kann eine Schule, die bei einer Sache Probleme hat, davon lernen. Dabei müsse man auch die Tradition brechen, dass jeder Lehrer für sich alleine kämpft. Hier braucht es Unterstützung und Ressourcen für die Pädagogen.

Die aktuellen Pläne in Österreich gehen da ja in die falsche Richtung: Kürzung von Unterstützung, Auslese, weniger Ganztagsschulen, Integrationsmaßnahmen werden zurückgefahren, kompensatorische Maßnahmen fehlen fast zur Gänze im Regierungsabkommen. Johann Bacher, Professor an der Uni Linz, nennt drei Faktoren, die eine Rolle spielen: Erstens, das österreichische Schulsystem delegiert sehr viele Aufgaben an die Eltern, gerade die Bildungsaufgaben. Daher hängt viel davon ab, ob die Eltern unterstützen können oder nicht. In der Soziologie wird das als „primärer Schichteffekt“ bezeichnet. Zweitens Selektion: Österreich trennt die Kinder zu früh. Je früher die Trennung, desto weniger spielt der Leistungseffekt eine Rolle, desto stärker wirkt der soziale Hintergrund bei der Bildungsentscheidung. Dies wird als „sekundärer Schichteffekt“ bezeichnet. Und drittens: Die soziale Zusammensetzung in der Schule. Schulen in ärmeren Vierteln mit Arbeitslosigkeit oder niedrigerem Status wirken sich ungünstig auf die Bildungschancen der Kinder aus. Das nennt man „sozialen Kontexteffekt“.

Brennpunkt-Schule sagt man jetzt. Wahrscheinlich weil das was Heißes ist, im Brennpunkt einer Linse bündeln sich die Lichtstrahlen auf einen Punkt, der etwas zum Brennen bringen kann. Brennpunkt ist aber auch die Grenze, an der sich Gase, Festkörper oder Flüssigkeiten entzünden lassen und von selbst weiter brennen, also sowas wie ein Flammpunkt. Nach dem Besuch in der Oakland Schule würde ich das mit dem Brennpunkt neu sehen: Es geht in diesen Schulen um die Frage was im Mittelpunkt zu stehen hat. Im Fokus. Im Brennpunkt steht die Haltungsfrage.

Die Schuldirektorin in Tower Hamlets hat auf ihrem Türschild als Bezeichnung übrigens „Head Learner“ stehen, also „Oberlernende“ – und das ist mehr als ein Witz.

Erschienen in: Der Standard, Kommentar der Anderen, 18.10.2018

 

 

 

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