Respektverweigerung. Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht.

(Buchrezension).  Alles ist «Kultur». Du bist Kultur, alles, was du sagst, ist Kultur, alles, was dich ausmacht, ist Kultur, alles, was du tust, erklärt Kultur. Sonst hast du keine Gründe. Der Psychoanalytiker und Arzt Sama Maani erinnert uns in seiner Aufsatzsammlung an die Verstrickungen von Identität, Kultur und dem Unbewussten. Welches Konzept von Gesellschaft steckt hinter der Inflation des Begriffs „Kultur“ in der aktuellen Debatte?
Den Zwang zur Alles oder Nichts-Identität hat Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen als „pluralen Monokulturalismus“ bezeichnet. Damit weist er auf die neue Form des alten Rassismus hin, deren Anhänger sich auch gerne die „Identitären“ nennen. Das meint, dass ganze Bevölkerungsgruppen einer einzigen Kultur und einer einzigen Identität zugeordnet werden, in die sich alle einzufügen haben. Sie kann durch Blut, Herkunft oder Religion bestimmt sein. Gelten für Angehöriger anderer Kulturen andere Maßstäbe hinsichtlich Demokratie, Freiheit und Recht? Maani plädiert dafür, derartigen Kulturzuschreibungen den Respekt zu verweigern.

Menschen erwerben Rechte durch ihr Menschsein, nicht durch die Zugehörigkeit zu einer Religion, Kultur oder Herkunft. Wird das umgedreht, schnappt die Kulturalismus-Falle zu. Als was du geboren wurdest, das bist du. Einmal „Ausländer“ immer „Ausländer“. Sie fasst deshalb auch den Integrationsbegriff kulturalistisch. Der Zugang zu Wohnungen, die nicht feuchten Substandard darstellen, wird so als kulturelles Recht definiert – und nicht als soziales Grundrecht. Dasselbe bei Familienzusammenführung, Sozialhilfe, sozialen Aufstiegschancen, Mitbestimmung.
Der religiöse Kulturalismus funktioniert so wie der völkische: Als was du geboren wurdest, das glaubst du. Menschen müssen aber die Freiheit haben, sich gegen (religiöse) Herkunft oder traditionsbedingte Vorgabe entscheiden zu können. Das ist Grundlage für die demokratische Verfasstheit einer Gesellschaft. Glaubende, ob sie zu Gott, Jahwe oder Allah beten, sind immer auch Frauen und Männer, Arme und Reiche, Privilegierte und Benachteiligte, Mächtige und Ohnmächtige. Das ist bedeutend, weil es zeigt, dass wir als Menschen mehrere Identitäten mit unserer je eigenen Geschichte, unseres Geschlechts, unserer Schichtzugehörigkeit, unseres Berufes aufweisen. Und Menschen entscheiden können, dass ihre ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit weniger wichtig ist als ihre politische Überzeugung, oder ihre beruflichen Zusammenhänge, oder ihre Rolle als Frau, oder ihre gewählten Freundschaften.
Das identitäre Entweder-Oder trägt auch in seiner harmlosesten Ausprägung den Keim des Krieges in sich. Man könne wissen, wann der Krieg beginnt, lässt Christa Wolf die trojanische Königstochter und Seherin Kassandra in ihrer gleichnamigen Erzählung sagen: „Aber wann beginnt der Vorkrieg?“ Der „plurale Monokulturalismus“ verbindet völkische Abendlandkämpfer mit islamischen Fundamentalisten. Denn beide sind miteinander verfreundete Feinde.
Aber was ist mit der Leitkultur, mit dem Abendland, mit der Rede von „unseren Leuten“? Sie sind Teil einer „Rekonstruktion“, zitiert Maani die Philosophin Isolde Charim. Eine solche Rekonstruktion braucht es erst nach einem Verlust. Gerade weil sich die nationale Gemeinschaft, die nationale Bindung verändert hat, bedarf es überhaupt einer Rekonstruktion. Gerade weil die vollen nationalen, religiösen, kulturellen Identitäten nicht mehr greifen, kommt es zu einer massiven Gegenbewegung. Eine solche findet sich bei den Kulturalisten auf beiden Seiten: bei jenen der Mehrheits- und bei jenen der Minderheitsgesellschaft.
Kann es sein, dass der Identitäre „an jenem Ort der Vergangenheit, von dem er die Heilung der Gebrechen seiner Gegenwart erhofft, nicht vielmehr ihren Ursachen begegnet?“, fragt Sama Maani. In der islamistischen Regression beispielsweise, bei der sich die von Mangel gezeichnete Gegenwart, in der Hoffnung auf Erlösung, nach einer „glorreichen Vergangenheit“ zurücksehnt. Wenn sich aber der „glorreiche“ Sehnsuchtsort ebenfalls als Ort des Mangels herausstellt, unerlöst, tot? Jener Sehnsuchtsort wäre dann der Ort eines nicht eingestandenen Zweifels, lebendig nur als verzweifelte Wut über die eigene Ohnmacht. Und einer nicht gestellten Frage an einen ohnmächtigen Gott: Warum hast du uns verlassen?

Sama Maani: Respektverweigerung. Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht. Drava Verlag, 2015

Erschienen in: Die Presse, Spectrum, 4.09.2015

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