Was ist von einer Wertedebatte zu halten, die soziale Grundrechte missachtet und Armut erhöht? Wird über Werte gesprochen, um über Menschenrechte zu schweigen? Muss, wer „unsere Werte“ verteidigen will, nicht auch kritisch bei identitärem Denken sein? Auf der Suche nach Selbstwirksamkeit und Respektabilität: Vor allem das Bedürfnis nach Wertschätzung, Würde und Integrität von all jenen, die sich nicht täglich im Lichte des Erfolgs sonnen können, ist aus dem Blick geraten.
Vorwort
Vor vier Jahren haben wir das Buch „Die Integrationslüge. Antworten in einer hysterischen Auseinandersetzung“ verfasst. Wir wollten in einer Debatte, die privat und öffentlich so verwirrt und unsachlich geführt wird, auf Halbwahrheiten und Irrtümer hinweisen, die die Probleme weiter verfestigen und vertiefen: die Verwechslung von Relativismus mit Toleranz, die Politisierung von Identität und Religionszugehörigkeit, die Kulturalisierung sozioökonomischer Fragen und die Ignoranz gegenüber den (Status-)Kränkungen und Ohnmachtsgefühlen der Bevölkerung. Thematisch hatten wir uns bewusst der bis dahin wenig diskutierten Aspekte angenommen: altern in der Migration, Gesundheit, Geburt, Pflege, Bildungsverwertung, die konkrete Arbeitswelt mit ihren prekären Jobs. Wir waren auf der Geburtenstation, bei Abwäschern im Restaurant, in den Schulen und unterwegs mit „harten Jungs“, in der U-Bahn bei Straßenzeitungsverkäufern, auf Spurensuche von Berlin über die Schweiz nach Österreich.
Über den Wert der Grund-und Menschenrechte in Zeiten ihrer Relativierung
Die Auseinandersetzung ist heute durch die Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten hysterischer denn je. Der „Notstand“ wird ausgerufen, die Internetforen gehen schier über vor Hetze und Hass, ein autoritärer Nationalismus rückt ein soziales und demokratisches Europa in die Ferne, die politische Debatte findet sich an der Identitätsfront wieder.
Ein Widerspruch fällt besonders auf: Während Menschenrechte im Kontext von Asyl zunehmend ausgehebelt werden und soziale Grundrechte bei den ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung unter Druck kommen, wird in fast jeder Diskussion, in beinahe jeder Rede, sowie in jedem zweiten Zeitungsartikel auf „unsere Werte“ gepocht. Gleichzeitig werden ethische und moralische Haltungen diskreditiert, aber „Werte“ eingefordert und hochgehalten. Eine irritierende Entwicklung: Je mehr über Werte gesprochen wird, desto weniger spielen Menschenrechte eine Rolle. Unsere verfassungsrechtlich verankerten Grundwerte umfassen auch die Menschenrechtskonvention, etwa das Recht einen Asylantrag zu stellen, das Recht auf ein Familienleben, das Recht auf soziale Grundsicherung oder das Recht auf Gleichbehandlung. Diese Menschenrechte, die für alle gelten sollten, werden aber auch in Europa zunehmend mit Füßen getreten.
Wird über Werte gesprochen, um über Menschenechte zu schweigen? Hier drängt sich ein Zwischenruf auf. Der Begriff der Werte kommt nicht aus der Ethik, sondern aus der Ökonomie. Der Wert gibt das Gewicht an, das wir einem Gegenstand zuerkennen, wie wir ihn bewerten, mit wie viel Geld wir ihn aufwiegen. Das übliche Maß für Werte ist der Preis. „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde“, formulierte Immanuel Kant. Und Konrad Paul Liessmann ergänzt: „Die Suche nach Werten, die Frage, wo sich Werte bilden, die Behauptung, es müsse eine Werterziehung geben, die Interpretation der Menschenrechte als Werte, die ideologische Rede von Wertgemeinschaften: All das deutet an, dass man an der Würde des Menschen kein Interesse mehr hat, sondern im Begriff ist, seine Präferenzen und die zugrundeliegenden zweckorientierten Wertmaßstäbe durchzusetzen“. Der Wertebegriff mache die Würde des Menschen zu einem Spekulationsobjekt.
Die Fluchtbewegung von außen nach Europa wird innen zur sozialen Desintegration genützt und missbraucht
Das Land Niederösterreich erließ ein Gesetz zur Streichung der Mindestsicherung bei Flüchtlingen, versteckte aber darin die Kürzung des Wohnens bei Menschen mit Behinderungen. „Flüchtlinge“ wird gesagt, aber gestrichen wird dann beim Wohnen für alle, auch für alle ÖsterreicherInnen. So funktioniert das. Oder die sogenannte Deckelung bei Familien. Asyl wird gerufen, dann aber die Mindestsicherung für alle Kinder gestrichen.
Es wird daran gearbeitet, die Republik unattraktiver zu machen, nicht bloß für Flüchtlinge, sondern auch für Mindestsicherungsbezieher, Menschen mit Behinderung oder chronisch Kranken. Die sozialen Probleme steigen, obwohl die Gesellschaft insgesamt immer reicher wird, besonders ganz oben. Schuld sind aber immer die da unten. „Die Arbeitslosen“, „die Mindestsicherungsbezieher“ und „die Asylanten“. Das ist eine Methode, um die Verteilungs- und Gerechtigkeitsdebatte nur „ganz unten“ zu führen. Die zehn Prozent der Bevölkerung mit den geringsten Einkommen und Chancen dürfen einander die Augen auskratzen. Seit hundert Jahren drohen diese Diskurse in einem sich stets wiederholenden Prozess abzulaufen, bei dem die jeweilige Verlierergruppe eines grundlegenden sozialen Wandels für ihre verschlechterte soziale Lage selbst verantwortlich gemacht, beschimpft und herabgewürdigt wird.
Was ist von einer Wertedebatte zu halten, die soziale Grundrechte missachtet und Armut erhöht? Das Europaparlament analysierte die Auswirkungen der Austeritätspolitik auf die Grundrechte in der Europäischen Union: In allen sieben Ländern kam es zur Reduktion von Lehrern an den Schulen, obwohl die Schülerzahlen gestiegen sind. In Griechenland wurden Schulen nicht mehr beheizt und Schulstandorte wurden geschlossen, was den Zugang zur Bildung für bestimmte Bevölkerungsgruppen erschwerte. In Spanien sparte man bei der Schulausstattung, sogar bei den Schulbüchern. In Griechenland kam es zu gravierenden Einschnitten zusätzlich im Gesundheitssystem. Dabei wurde die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung derart aufs Spiel gesetzt, dass sogar die Kindersterblichkeit anstieg. Das Europaparlament legt in seinem Bericht den Finger in eine der größten Wunden: Den Programmen fehlt die Bindung an die europäischen Grundrechte. Mehrere Reformempfehlungen der Troika stehen in klarem Konflikt mit dem Europäischen Recht, insbesondere der Europäischen Sozialcharta. Dazu gehören die durch unausgeglichene Sparpolitik verschlechterte medizinische Versorgung und der durch Arbeitsmarktreformen verursachte starke Rückbau des Tarifsystems. Aber wer spricht jetzt eigentlich noch davon? Die Fluchtbewegung von außen nach Europa wird innen zum Vergessen und Verdrängen einer fragwürdigen Politik genützt und missbraucht.
Wer „unsere Werte“ verteidigen will, ist kritisch bei identitärem Denken
Alles ist „Kultur“. Du bist Kultur, alles, was du sagst, ist Kultur, alles, was dich ausmacht, ist Kultur, alles, was du tust, erklärt Kultur. Sonst hast du keine Gründe. Welches Konzept von Gesellschaft steckt hinter der Inflation des Begriffs „Kultur“ in der aktuellen Debatte? Den Zwang zur Alles- oder Nichts-Identität hat Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen als „pluralen Monokulturalismus“ bezeichnet. Damit weist er auf die neue Form des alten Rassismus hin, deren Anhänger sich auch gerne die „Identitären“ nennen. Das meint, dass ganze Bevölkerungsgruppen einer einzigen Kultur und einer einzigen Identität zugeordnet werden, in die sich alle einzufügen haben. Sie kann durch Blut, Herkunft oder Religion bestimmt sein. Das identitäre Entweder-Oder trägt auch in seiner harmlosesten Ausprägung den Keim des Krieges in sich. „Man könne wissen, wann der Krieg beginnt“, lässt Christa Wolf die trojanische Königstochter und Seherin Kassandra in ihrer gleichnamigen Erzählung sagen. „Aber wann beginnt der Vorkrieg?“ Der „plurale Monokulturalismus“ verbindet völkische Abendlandkämpfer mit islamischen Fundamentalisten. Denn beide sind miteinander verfreundete Feinde.
Von der Suche nach Selbstwirksamkeit und Respektabilität
Nicht wahrgenommen werden bedeutet ausgeschlossen zu sein. Deshalb ist heute die Sehnsucht nach einer gerechten Gesellschaft so stark verbunden mit dem Wunsch nach Anerkennung. Die Antwort sitzt im Spalt zwischen „Was habe ich?“ und „Wer bin ich?“. Zum Abschluß widmen wir uns den Gefühlen, den Bedürfnissen, den Affekten, die hinter der aktuellen Debatte wirken. Es geht nicht nur um Angst, sondern auch um Ohnmacht, um Scham, um Neid. Anerkennung erfahren und gestalten können, gehören zu unseren zentralen Bedürfnissen. Netzwerkforscher Harald Katzmair: „Jene, die Teilhabe anbieten, werden beim Einsamen Resonanz erzeugen. Jene, die sagen: So wie Du bist, bist du ein wertvoller Mensch, werden bei denen, die nie im Licht der Anerkennung stehen, Anklang finden. Die in Hierarchien eingepferchten werden jene, die neue Spielräume ermöglichen, als Befreier sehen.“ Wer diese Grundbedürfnisse nicht mehr auf dem Radar hat, wird auch nichts ausrichten gegen Ideologien der sozialen Ausgrenzung. Vor allem das Bedürfnis nach Wertschätzung, Würde und Integrität von all jenen, die sich nicht täglich im Lichte des Erfolgs sonnen können, ist aus dem Blick geraten. Wo wir gestalten können, Anerkennung erfahren und sozialen Ausgleich erleben, dort wächst Vertrauen – und sinkt der Hass.
Vorwort aus: „Wert und Würde. Ein Zwischenruf.“ Von Eva Maria Bachinger und Martin Schenk, HanserBox, 2016.