Neu! Besser! Billiger! Soziale Innovation als leeres Versprechen?

Alte Menschen pflegen, Flüchtlinge betreuen oder Kinder unterrichten: „soziale Innovation“ ist mittlerweile unabdingbar – zumindest am Etikett. Der Begriff  „soziale Innovation“ ist mit der Finanzkrise auf der öffentlichen Bühne Europas erschienen. Doch was verbirgt sich hinter diesem Modewort? Wer definiert „soziale Innovation“ im Bereich sozialer Dienstleistungen, wer bringt sie hervor und wer profitiert davon? Reformieren, retten, verbessern „soziale Innovationen“ den Sozialstaat? Oder wird das Konzept verwendet, um die Kommerzialisierung und Vermarktlichung sozialer Dienstleistungen voranzutreiben?

Editorial

Wie demenzkranke Menschen pflegen, minderjährige Flüchtlinge betreuen, Menschen nach psychischem Zusammenbruch wieder aufrichten oder Straßenkinder unterrichten? Von sozialer Innovation spricht man, wenn gesellschaftliche Probleme auf neue Art und Weise gelöst werden. Damit sind etwa neue Formen der Kommunikation gemeint, moderne Techniken und Methoden, oder neuartige Kooperationen verschiedener Institutionen und AkteurInnen (Howaldt/Schwarz 2010). Probleme neu zu durchdenken und mittels sozialer Innovation – also neuen sozialen Praktiken – zu lösen, stellt definitiv eine Chance für den Umgang mit aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen dar. Mit sozialer Innovation sind daher auch viele Hoffnungen verbunden: sozialen Wandel herbeiführen, den Sozialstaat in Zeiten der Sparpolitik entlasten, die Grundlage eines neuen sozialen Gesellschaftsvertrages bilden, ‚social change‘ erwirken, effizienter werden – kurzum: die Welt besser machen. Was davon kann soziale Innovation tatsächlich leisten und erfüllen?

Warum soziale Innovation – und warum gerade jetzt?

Soziale Innovation ist gegenwärtig in aller Munde: sie ist plötzlich nicht nur zu einem Muss-Kriterium bei der Erstellung von Leistungen für Obdachlose, bei der Arbeitsmarktintegration oder der Frühförderung  geworden, sondern auch Kernthema des größten EU-Forschungsprogrammes Horizon 2020. Auf beiden Seiten des Atlantiks wird auch im Politikdiskurs stärker darauf Bezug genommen, werden von Regierungen Abteilungen für soziale Innovation eingerichtet und an Universitäten entsprechende Social Innovation Centers gegründet. ‚Pathways to Social Change‘ oder ‚Social Innovation to Tackle Future Challenges‘ lauten die Titeln der Konferenzen zu sozialer Innovation, und im Sozialbereich werden seit geraumer Zeit etwa „Social Innovation Awards“  vergeben.

Dieser Hype um den Begriff und dessen zunehmende Institutionalisierung hat eine Geschichte: erstmals erwähnt in den 1970er Jahre (siehe Zapf 1989) war das Wort  bis etwa ins Jahr 2000 nicht sonderlich bekannt, sondern bestenfalls im Bereich der Urban Policy ein Begriff (Baglioni/Sinclair 2014). Die Konjunktur der sozialen Innovation ist ein Krisenphänomen (Riedlinger, 2010). Ausgehend von der Finanzkrise 2007/8 und deren Folgekrisen waren die sogenannten ‚Big Challenges‘ wie Klimawandel und Ressourcenknappheit Wegbereiter für den Höhenflug des Konzeptes. Die Idee, sozial zu sein, ohne Verteilungs- und Machtfragen zu stellen, die Hoffnung, sozial zu sein ohne die Kürzungen des Sozialstaats stoppen zu müssen, das Vorhaben, sozial zu sein ohne Austerität in Frage zu stellen  – all das machte das Konzept attraktiv. Die soziale Innovation schaffte somit den Einzug in den politischen Mainstream, um als Lösung für alle anstehenden Probleme herzuhalten.

Die Europäische Kommission sprang mit intensiven Bemühungen auf, um dieses Konzept, um soziale Innovationen zu forcieren. Mit zahlreichen Top-Down Ansätzen, also von oben verordneten Strategien, sollen Initiativen der Bevölkerung gefördert werden. Beispielsweise kommt in der Strategie Europa 2020, welche die Leitlinien der europäischen Politik für die nächsten Jahre festlegt, sozialen Innovationen eine Schlüsselrolle in Wirtschaft und Forschung zu. Auch in der Regionalpolitik sind sie im Zuge von „Smart Specialisation Strategies“ von enormer Relevanz. Aus der Not – dem Mangel an öffentlichen finanziellen Mitteln – wurde eine Tugend gemacht. Die (Mit-)Finanzierung öffentlicher Versorgungsaufgaben durch Private (z.B. über Social Impact Bonds) wird als soziale Innovation bezeichnet, ebenso das Mitproduzieren von KonsumentInnen an Produkten („Prosumer“).“In the current economic climate, it is essential to do more with less and to do it better”, wird seitens der EU als Begründung für soziale Innovation angeführt (Bureau of European Policy Advisors, 2014: 93). Die Zauberformel lautet also: es soll mehr mit weniger gemacht werden. Damit ist auch klar gesagt, dass nach billigeren Lösungen gesucht wird, oder genauer: nach weniger Mitteln solidarischer Finanzierung, nach weniger res publica basierend auf sozialen Rechten. Soziale Innovationen werden als die Lösungen gehandelt, die diesen Erwartungen, diesem Druck gerecht werden.

Was genau ist soziale Innovation?

Was sich hinter dieser Worthülse nun eigentlich verbirgt, ist vielfach unklar. Auch wenn es einige Kriterien gibt, die sich in den meisten gängigen Definitionen von sozialer Innovation wiederfinden – beispielsweise die neuen sozialen Praktiken, der gesellschaftliche Nutzen, die Skalierbarkeit – so ist das Konzept dennoch sehr schwammig und schwer zu fassen. Diesen Pudding an die Wand zu nageln gestaltet sich schwierig. Die Vagheit ist aber auch Bestandteil des Konzepts: vage ist einerseits, worauf sich das ‘sozial’ bezieht, auf Beziehungen, Zusammenarbeit, Kooperation, oder sozial im Sinne von sozialen Dienstleistungen. Vage ist andererseits, was als Innovation zu verstehen ist.

Problematisch dabei ist, dass plötzlich alles eine soziale Innovation ist, sofern die jeweiligen AkteurInnen es wollen. ‘…social innovation is never neutral but always political and socially constructed’’ (Nicholls/Murdock 2012: 4). Die Unschärfe der Worthülse erlaubt, sie mit allem zu befüllen und für sich zu vereinnahmen. Ein Containerbegriff. Es geht um Branding – und um die Diskursmacht, wer was als soziale Innovation bezeichnet, deklariert. Somit verwandelt sich alles, das mit dem Etikett ‚soziale Innovation‘ versehen wird, in etwas Gutes, Besseres, Erstrebenswertes. .Eng mit diesem Diskurs verbunden  ist der Begriff des Social Entrepreneurs (SE). Er geht mit der Geschichte der sozialen Innovation quasi einher. Definitionen von SE klingen sehr ähnlich wie jene von sozialer Innovation „SE wird generell als neuartiger Ansatz verstanden, soziale Probleme und gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen. Soziale Unternehmer bedienen sich dabei unorthodoxer, neuer Leistungs- und Geschäftsmodelle“ (Mair et al., 2010). Auch hier sind die Erwartungen hochgesteckt: Social Entrepreneurs werden als ‚changemakers‘ gehandelt. In der Praxis herrscht ebenfalls bunte Vieldeutigkeit vor, die Palette jener Unternehmen die als SE bezeichnet werden ist breit. Die Vagheit und Vielfalt bereichere den Diskurs, wird argumentiert. Sie ermöglicht aber auch, im kuscheligen sozialen Schafspelz in Dienstleistungsbereiche vorzudringen, in denen Ökonomisierung und Vermarktlichung bislang – auch mit guten Gründen – tabu waren.

Worin liegt das Problem?

Problematisch ist die normative Besetzung des Begriffs. Liest man die Begründungen für Sozialpreise, vertieft man sich in die Managementliteratur, glaubt man den Karriereseiten in den Zeitungen, dann kann man gar nicht anders als zum Schluss kommen: Das Alte ist schlecht, das Neue ist gut. Das eine ist von gestern, das andere weist ins Morgen. Natürlich braucht es gute Ideen und Mut zur Veränderung. Aber ist „Neuheit“ das entscheidende Kriterium?

Hinter diesem gefühlten Zwang zur Innovation verbirgt sich ein gerütteltes Maß an Ideologie. Was unter der Fahne der „Innovation“ segelt, bietet bei näherer Betrachtung oft nichts Neues unter der Sonne. Es tut so als wäre es – abgeschnitten von allem Vorhergegangen – original Neu, obwohl es oft aus dem Alten schöpft. In diesem Neuigkeitswahn werden Gegenwartskrisen nicht aus begangenen Irrtümern, Fehlentwicklungen oder Fehlentscheidungen erklärt, argumentiert in diesem Zusammenhang der Philosoph K.P. Liessmann. Krisen sind in dieser Lesart immer und ausschließlich Resultate eines Neuigkeitsmankos. Es war zu wenig Neu.

Die Frage nach dem Neuen hat hier die alten Fragen nach der Wirklichkeit und die Fragen nach dem guten Leben abgelöst. Was nicht neu ist oder sich als neu präsentieren werden kann, hat keinen Wert – und sei es auch noch so gut oder noch so funktional. Das einzige, was es gegenüber dem Alten in die Waagschale zu werfen hat, ist nicht unbedingt das Bessere, sondern eben: Es ist etwas Neues. Für gute Dienstleistungen und den konkreten Menschen sollte aber gelten: Es geht um das Bessere!

Worum soll es gehen – worum geht in diesem Buch

Die Suche nach der richtigen Definition von sozialer Innovation ist müßig – und letztendlich auch überflüssig (vgl. Borzaga/Bodini, 2014: 411). Die viel relevanteren Fragen im Diskurs um soziale Innovation lauten: Für wen sind soziale Innovationen gut? Und welches Ziel wird dabei verfolgt? Dass Goldman Sachs InvestorInnen für die vorschulische Bildung an öffentlichen Schulen in Chicago suchen, die eine Rendite erhalten, sofern die Entwicklung der Schulkinder entsprechend verläuft, ist tatsächlich innovativ (vgl. Goldman Sachs 2016). Aber die Frage, für wen das gut (und lohnend) ist, steht auf einem anderen Blatt. Probleme neu zu durchdenken, Lösungen mittels neuer oder alter sozialer Praktiken zu finden – und dabei die Frage zu stellen, wohin wir mit den Lösungen eigentlich wollen – das ist entscheidend. Es geht um Zielfragen und Zielkonflikte. Diese offenzulegen und nicht mit dem Buzzword soziale Innovation zu verschleiern – und auf Basis dieser Informationen zu entscheiden, wohin die Reise gehen soll, darum geht es. Dabei ist „neu“ allein kein Kriterium, um etwas zu bewerten.

Soziale Innovation muss zudem auch im Sinne der kontinentaleuropäischen Sozialpolitik anders gedacht werden als in angloamerikanischen Ländern, wo solidarische Systeme sozialer Sicherung eine untergeordnete Rolle spielen. Der Fokus kann daher nicht – wie im jetzigen Diskurs – auf Social Entrepreneurs liegen. Im Zentrum gerückt werden müssen vielmehr das gute Leben, qualitativ hochwertige soziale Dienstleistungen und deren (Weiter-)Entwicklung sowie die Beteiligung von Betroffenen, etwa Wohlfahrtsverbänden, Angehörigen- und Selbstvertretungsvereine, Nonprofit Organisationen oder der öffentlichen Sektor. Dies beugt nicht zuletzt einer weiteren Vermarktlichung von sozialen, derzeit noch gemeinnützigen, Leistungen vor.

Die These von David Edgerton, einem britischen Historiker, lautet, dass es eine unvorteilhafte Verschmelzung zwischen „technology“ und „innovation“ gab. Schwierig ist diese Verschmelzung deshalb, weil nur der Blick auf „technology“, also der Blick auf die Methode, auch dessen Gebrauch im Fokus hat. Erst der Blick auf den Gebrauch lässt uns die Geschichte der „technology“ verstehen, die dann wiederum wesentlich für Weiterentwicklung, Verbesserung und Anpassung ist. Oder anders ausgedrückt: “Invention and innovation rarely lead to use, but use often leads to invention and innovation. (Edgerton 1999: 123) Im Zentrum der Dienstleistungsentwicklung steht daher die Anwendung, der Gebrauch bzw. die Verwendbarkeit. Verbessern soziale Leistungen durch ihren Gebrauch das Leben der Menschen, so ist es unerheblich, ob diese im Nachhinein als innovativ tituliert werden.

Innovativ im Sinne der positiven Besetzung des Begriffes scheint daher letztlich auf jene Methoden, Techniken und Politiken zu fokussieren, die einerseits benutzt und von den Menschen verwendet werden, und andererseits ein gutes Leben für alle ermöglichen. Das Neue allein ist jedenfalls nicht gut genug. Für Obdachlosenbetreuung, Flüchtlingsarbeit, Pflege oder Bildung ist nicht das Neue, sondern das Bessere entscheidend.
Editorial aus: Neu! Besser! Billiger! Soziale Innovation als leeres Versprechen? Von Katharina Meichenitsch, Michaela Neumayr und Martin Schenk, Mandelbaum 2016.

 

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