Kopf, Hand, Fuß und Herz

Maßnahmen für Kinder, die es schwer haben, stehen auf drei Säulen: neben finanzieller Sicherung und Gesundheitsförderung geht es immer auch um gute Bildung.

Jasmin kommt gern zur Lernbegleitung. Sie hat einiges an Lernstoff nachzuholen. Zu Hause gibt es wenig Platz zum sich zu konzentrieren, die Wohnung mit ihren zwei Geschwistern ist klein und eng. Die Eltern können nicht beim Lernen helfen, mit dem geringen Einkommen geht sich das Notwendigste gerade aus. 20 Prozent aller Eltern würden für ihr Kind gerne Nachhilfe bekommen, können sich diese aber nicht leisten.
In der Lernbegleitung machen sie viele bunte Sachen. Memory spielen, einen Aufsatz schreiben, Mathe Beispiele durchgehen, für ein Theaterstück proben, ein Bühnenbild malen, einen Ausflug ins Museum unternehmen, gemeinsam singen. Jasmin macht Fortschritte, weil so zu lernen etwas bringt. Weil Kopf, Hand, Fuß und Herz gefragt sind. Der Kopf mit Rechnen oder Sprachen lernen, die Hand mit praktischem Tun und malen, der Fuß mit Bewegung und Ausflüge machen und nicht zuletzt das Herz, das Gemeinschaft erlebt und an Begegnungen wächst. All das braucht es fürs gute Lernen. Das gilt auch für eine gute Schule: Kopf, Hand, Fuß und Herz. Selbstverständlich ist das nicht. Die hohen Nachhilfekosten und auch der große Aufwand außerschulischer Lernbetreuung zeigt, dass in der Schule zu wenig gelernt wird – also geübt, verfestigt, trainiert, vertieft. Das gehört eigentlich zu den pädagogischen Kernkompetenzen der Schule. Warum Schule noch Luft nach oben hat, wenn es darum geht, ein guter Lernort für alle zu sein, hat mehrere Gründe. Einer davon sind mangelnde Ressourcen, so manche Kürzungen bei Förderungen, schlechte und enge Räume. Der andere ist ein struktureller: das Konzept der Halbtagsschule. Das österreichische Schulsystem delegiert sehr viele Bildungsaufgaben an die Eltern. Daher hängt viel davon ab, ob die Eltern, defacto die Mutter, unterstützen können oder nicht. Das benachteiligt besonders das untere Einkommensdrittel. Am Vormittag wird „gelehrt“, gelernt wird dann notgedrungen zu Hause oder sonst wo. Aber nicht in der Schule.
Jasmin zeigt mir ihr Schulzeugnis der vierten Klasse Volkschule. Notendurchschnitt 1,2. „Super, da gehst Du jetzt ins Gymnasium?“ Jasmin schüttelt den Kopf, „Nein, im Halbjahreszeugnis hab ich zu schlechte Noten gehabt.“ Mit dem muss man sich aber bei den höheren Schulen bewerben. Jasmin schreibt jetzt noch mit ihrer Lernbegleiterin Briefe an die Gyms in ihrem Bezirk. Bisher ohne Antwort.  Österreich trennt die Kinder zu früh. Je früher die Trennung, desto weniger spielt der Leistungseffekt eine Rolle, desto stärker wirkt der soziale Hintergrund bei der Bildungsentscheidung. 52.000 Volksschulkinder leben in einkommensarmen Haushalten.
Eine weitere Möglichkeit gegenzusteuern, ist Schulen in sozial benachteiligten Bezirken mittels Chancenindex besonders gut auszustatten. In Toronto heißt der Chancenindex „Learning Opportunity Index “. Wozu er dient, argumentieren die Kanadier so: „Die Schulen mit dem höchsten Wert haben die stärksten Herausforderungen zu bewältigen und brauchen daher die meiste Unterstützung“. Die Maßzahlen beziehen sich in Toronto auf das Familieneinkommen, Armut und formale Bildung der Eltern. Die Modellschulen sind in acht Cluster gruppiert mit verantwortlichen Lehrern (lead teachers), Weiterbildung (learning classroom teacher) und Sozialarbeitern (community support worker). Ähnlich stand im Zentrum des Turnarounds der „London Challenge“ die Qualität des Unterrichts, das Bilden von Lehrerteams, Ressourcen für pädagogischen Umbau und eine neue Haltung gegenüber den Kindern. Keine Verbesserungen gab es, wenn die Einstellung vorherrschend war: „Aus diesen Kindern wird nichts.“ Erwartung und Haltung haben große Wirkung. Ein Dutzend der Schulen wurde geschlossen und mit Team und Namen neu gestartet.
Maßnahmen für Kinder, die es schwer haben, stehen auf drei Säulen: neben finanzieller Sicherung und Gesundheitsförderung geht es immer auch um gute Bildung. Nichts tun kostet. Schülerinnen wie Jasmin werden da echt allein gelassen. Wem die humanistischen und sozialen Argumente nicht nahegehen, dem sollten es zumindest die ökonomischen: Die Folgen von Schulabbruch kosten uns alle 1,1 Milliarden, die von Kinderarmut siebzehn Milliarden Euro im Jahr.

Erschienen in: Wochenmagazin NEWS, Juni 2024

Dieser Beitrag wurde unter Uncategorized veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.