Frage: Was ist Leistung? Weitere Frage: Wenn dein Baby nachts schreit, nimmst du es hoch?
Gerlinde schlägt sich als Gebrauchsgrafikerin durch den Alltag. Ihr dreijähriger Sohn leidet seit seiner Geburt an schwerem Asthma. Seine Betreuung braucht viel Zeit. Das Einkommen ihrer Arbeit ist unregelmäßig und gering. Loch auf, Loch zu. Jetzt in der Krise wird es noch schwieriger. Natasa arbeitet als Reinigungskraft. Am Abend gibt’s dann noch den eigenen Haushalt. Gerlinde und Natasa sind beachtliche Leistungsträgerinnen. Sie leisten Außergewöhnliches, leisten können sie sich nichts.
Frage: Was ist Leistung? Weitere Frage: Wenn dein Baby nachts schreit, nimmst du es hoch? Manchmal kann man als Mama und Papa nicht mehr, klar, aber so prinzipiell, wenn das kleine Kind weint, tröstest Du es? Die Antwort sagt, ob wir glauben, uns Zuwendung erst verdienen zu müssen, ob wir sie uns zu erwerben haben, ob wir uns würdig erweisen sollen, ob wir sie als Belohnung bekommen oder sie uns als Strafe verweigert wird. Diese Frage ist ein brauchbarer Test für Gesellschaften mit mehr oder weniger sozialer Sicherheit, mehr oder weniger Armut, mehr oder weniger sozialer Spaltung.
„Jeder schafft es, wenn er nur will“. Dieses zentrale Dogma verwandelt alle in Gewinner und Verlierer. Die Gewinner verdanken Erfolg ihrer Leistung, die Verlierer das Zurückbleiben ihrer Unfähigkeit. In dieser „Meritokratie“, der Herrschaft der Leistung, sind die Ärmeren stets selbst schuld an ihrer Situation. „The Tyranny of Merit“ nennt der Philosoph Michael Sandel sein neues Buch, in dem er der Frage nachgeht, was anderen „zusteht“ und was jemand „verdient“.
Je mehr über die Chancen, die alle haben, geredet wird, desto weniger sind diese in der Realität auffindbar. Am stärksten ist die Rede davon in den USA, wo gleichzeitig die Chancen aufzusteigen in den letzten Jahrzehnten am stärksten gesunken sind und die Schere zwischen Arm und Reich am ärgsten gewachsen ist. Dort, wo die soziale Ungleichheit explodiert, dort beschwören die Mächtigen am liebsten das Märchen, dass alles von Dir selbst abhängt. Viele arbeiten hart, können aber trotzdem nicht davon leben. Viele merken, dass es ich bei diesem Versprechen um eine Lüge handelt. Die Überheblichkeit der Gewinner ebenso wie die Demütigung der Verlierer befeuern den autoritären Nationalpopulismus wie wir ihn derzeit erleben. Im Kern merken die Leute, dass sie angelogen werden und äußern ihren Unmut gegen die Eliten, die dieses sozialliberale, trügerische Märchen tagaus tagein auf der Zunge tragen.
„Die säkulare meritokratische Ordnung von heute lädt den Erfolg in einer Weise mit Moral auf, die den Nachhall eines früheren Glaubens an die Vorsehung bildet“, so Sandel. Im Gegensatz zum lutherischen Verständnis von Gnade als ein unverdientes Geschenk, wird hier ein weltliches „Wohlstandsevangelium“ gepredigt, dass Gott Glauben mit Wohlstand und Gesundheit belohnt. „Die Erfolgreichen schaffen es aus eigener Kraft, doch ihr Erfolg bescheinigt ihre Tugend“. Die Reichen sind reich, weil sie es mehr verdienen als die Armen.
Der gutgemeinte Ruf nach mehr Chancengleichheit verschweigt die Defizite bei Verteilungs-, Bedarfs-, Teilhabe- oder Anerkennungsgerechtigkeit. Und er spricht ein Urteil: Du bist selber schuld. Barrieren abzubauen ist gut. Niemand sollte durch Armut oder Vorurteile aufgehalten werden. Doch eine gute Gesellschaft könne nicht allein „auf dem Versprechen einer Fluchtmöglichkeit beruhen“. Statt dieser trennenden Ethik des Erfolgs, plädiert Sandel für eine umfassende Gerechtigkeitskonzeption. Die Blume der Gerechtigkeit hat viele Blütenblätter, nicht nur eines. Die Überzeugung, dass Menschen alle Reichtümer verdienen, die der Markt für ihre Fähigkeiten verteilt, macht Solidarität schwierig. Warum sollen die Gewinner den weniger begünstigten Mitgliedern der Gesellschaft etwas schuldig sein? Jeder hat ja verdient, was er kriegt. Diese Ideologie ist gnadenlos, es gibt keine Zufälle der Geburt, kein Glück, keine Menschen oder Institutionen, denen man etwas verdanken könnte, kein Schicksal, nichts, das außerhalb unserer Fähigkeiten liegt.
Wenn mein Baby nachts schreit, tröste ich es? Niemand von uns kann gut aufwachsen ohne andere. Wir brauchen Zuwendung von anderen, um uns gut zu entwickeln – und diese Zuwendung bekommen wir geschenkt. Wir müssen sie uns nicht verdienen – in Wahrheit sind Zuwendung und Respekt Geschenke. Respekt ist kein Verdienst, Respekt ist die Voraussetzung. „Ich muss nicht mein eigenes Lebensbrot backen, ich muss nicht meine eigene Kraftspenderin oder mein Tröster sein, ich muss nicht nur ich selber sein.“, formuliert Dorothee Sölle. In den Ländern, wo wir nicht alles „von uns selber“ verlangen, dort gibt es weniger Armut, mehr soziale Sicherheit und eine geringere Spaltung zwischen Arm und Reich.
Erschienen in: Album, Der Standard, Über Erfolg und Unfähigkeit: Die Predigt vom „Wohlstandsevangelium“, 26.12.2020