Die Welt verloren

Wenn es um schreckliche Dinge geht, schaut man einmal schnell hin. Hier geht es um Schreckliches. Tot und Verletzung. Die Lawinen von Galtür, das Seilbahnunglück von Kaprun, Folter und Kri eg. Man schaut kurz hin, so wie man es aushält. Wenn es zu arg ist, kann man auch wieder wegschauen. Diese Dinge sind „aus der Welt“. Sie sind rezipierbar, weil sie auf Papier und Zelluloid in unsere Welt kommen.
Als er ankam, traute er niemandem. Er konnte sich kaum konzentrieren. Die Nacht wurde ihm zum Tag, um den Albträumen zu fliehen. Seine Frau und seine kleine Tochter hatte er seit seiner Flucht nicht mehr gesehen. Ihn quälten schreckliche Schuldgefühle wegen eines Freundes, dessen Name ihm unter s chwerer Folter entschlüpft war und der daraufhin verschwand. Er zeigte sich bisweilen fahrig – weinerlich, dann wieder gefasst und um Optimismus bemüht. Das Gespräch über Frau und Kind führte zu bitterlichem, krampfartigen Weinen. Hingegen erzählte er die Geschichte seiner Verhaftung äußerst leblos und distanziert. An der Stelle, an der eine Schilderung der bis dahin nur kurz erwähnten Folter zu erwarten war, verfiel er in Schweigen. Als er ein Jahr da war, traute er niemandem. Ein Zwischenfall im Flüchtling slager Traiskirchen: Aufgrund einer Unstimmigkeit mit der Lagerleitung meinte er, er werde aus dem Lager entlassen. Darauf schlug er sich in tiefer Verzweiflung mit dem Kopf an der Wand bewusstlos. Als er wieder erwachte, hörte er das Folgetonhorn der mitt lerweile verständigten Rettung und sprang im Glauben, es sei ein Arrestantenwagen, aus dem Fenster.

In Spionagefilme und Hollywooddramen kommt Folter zur Erpressung von Geständnissen und geheimen Informationen vor. Das blendet die zentrale Richtung von Fo lter aus: den Menschen als Person zu brechen und seine Würde, seine Beziehungen, seine Zukunft zu vernichten. Das erlittene Trauma lässt eine massive Verletzung zurück. Das Vertrauen in die Welt ist verloren. Eine Todeserfahrung ohne wirklich tot zu sein. „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt“, schrieb der von den Nazis 1943 gefolterte Jean Amery. „Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen. Der gemartert wurde, ist waffenlos der Angst ausgeliefert.“ „Das wirklich Furchtbare ist die absolute Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein. Es wird ein Stück Mensch – Sein negiert, das im Tod erhalten bleibt, weil man es vor dem Tod über das Sterben phantasieren kann. Wer sein Testament macht, verfügt über den Tod hinaus, er ist da. Wer vollständig ohnmächtig ist, ist bei lebendigem Leibe nicht mehr da“ (J.P.Reemtsma). W ie aus der Welt gefallen zu sein. Wie die Welt verloren zu haben.
Jan Philipp Reemtsma wurde von Erpressern dreißig Tage in einem Keller gefangengehalten. Er wusste n icht, ob er da lebend wieder herauskomme. Seine Aufzeichnungen beschreiben eine ver – rückte Welt. „Alles ist wie es war, nur passt es mit mir nicht mehr zusammen. Als trüge ich eine Brille, die alles einen halben Zentimeter nach links oder rechts verschiebt . Ich kann nichts mehr greifen, der Tritt fasst die Stufe nicht mehr. Oder als seien die Oberflächen der Dinge leicht gebogen, als würde nichts mehr Halt finden, das ich hinstellen möchte. Welt und ich passen nicht mehr.“ Sie verlieren den Boden unter den Füßen, den Stand in der Welt. Es ist nicht allein eine tiefe Erschütterung, es ist vielmehr ein völliges Wegbrechen. Es ist das Gefühl, verloren zu gehen, den Kontakt mit der umgebenden Welt zu verlieren.

Ein ganzes bosnisches Dorf war wie nach einem bö sen Traum aufgewacht mitten in Wien. In der Ecke eines Zimmers spielten vier Männer Karten. Schwarze Schnurrbärte, gefurchte Gesichter. So könnten sie gesessen haben in ihrem Dorf, Jahr für Jahr. Jetzt war die Katastrophe hundert Kilometer nach Norden verl egt worden, irgendwohin in ein Wiener Spital zwischen Kachelböden und gespendeten Holztischen Kinder brachten ihre Zeichnungen mit vom roten Fluß Drina, voll von Leichen und vom „allerliebsten Hund Medi“, den der sechsjährige Vedan in Bosnien zurücklassen musste. Eine Mutter hat ihren einzigen Sohn verloren. Sie will selbst nicht mehr leben. „Die Trauer zerstört mich.“ Enim, ein 70jähriger Schafhirte, hat seinen Hof verloren, das Anwesen wurde niedergebrannt. Mit 28 seiner Verwandten hat er es geschafft, m it nichts außer seinem Leben davonzukommen. Seine Frau Ajka sitzt jede Nacht im Bett und schaukelt mit dem Oberkörper, „um nicht schreien zu müssen“. Und Zahari, zwölf Jahre alt, erzählt vom Abtransport ihres Vaters, der ihr mit auf den Weg gab: „Wir sehen uns zum letzten Mal. Paß auf deine kleinen Geschwister auf.“

Die Überzeugung bricht zusammen, man könne sich in der Welt sicher fühlen. Das mit dem Trauma erlebte ist so grausam oder absurd, dass im bisherigen Weltbild kein Platz dafür vorgesehen war. Zugleich ist es jedoch zu massiv, um es zu ignorieren zu können. „Es ist alles tatsächlich unwichtig geworden. Auch die Meinung, es sei alles unwichtig geworden. Diese hat nämlich keine Spur von dem Pathos mehr, das in der Depression noch aufbewahrt ist. Der Depressive geht an oder in der Welt zugrunde. Aber wenn die Welt und ich nicht mehr zusammenpassen, dann bedeutet unwichtig werden nichts mehr, das sich durch ein besonderes Gefühl grundieren ließe, sondern ist die bloße Tatsache, dass alles, was wichti g ist, in der Welt ist, und ich eben nicht darin“ (Reemtsma). Man könne sich an alles gewöhnen, heißt es. Gewöhnen gibt es hier nicht. Gewöhnen bedeutet in diesem Fall nämlich, dass sich das Unglück nach innen ausdehnt, Teil von einem wird, dass die Chance , aus dem Unglück aufzutauchen wie aus einem Albtraum, den man unter der morgendlichen Dusche abwaschen kann, geringer wird. Gewöhnung bedeutet eine größere pathogene Intensität: Die Seele verlagert den Schrecken aus der Aktualität ins Chronische, aus der Exterritorialität ins Leben.

„Das extreme Trauma ist ein Wirklichkeit gewordener Albtraum. Unser Vertrauen in die Welt und in die eigene Person hat sich mit dem Glauben entwickelt, dass bestimmte monströse und grausame Figuren nur in den bösen Träumen od er Märchen vorkommen, aber niemals in der umgebenden Alltagswelt.“, weiß der Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer aus seiner Erfahrung mit Traumatisierten. „Im Märchen werden böse Stiefmütter dadurch bestraft, dass sie sich in glühenden Pantoffeln zu Tode tan zen müssen, es werden Kinder von Kannibalismus bedroht und es gibt auch Mädchen mit abgehackten Armen. Aber sollte nach dem Märchen – Vorlesen eines unserer ängstlichen Kinder fragen, ob derlei auch Wirklichkeit werden kann, werden wir ihm sicher nichts von Sierra Leone erzählen, sondern ihm die Gewissheit geben, dass kein Grund zu Angst, dass vielmehr ein Schutzwall gegen die Monster besteht. Trauma ist immer die Zerstörung des Urvertrauens und der Schutzmauer, in denen wir uns sicher gewähnt haben.“ Wie im Film, sagte man zueinander nach dem 11.September. Im Film ist das Schreckliche erträglich aufgehoben. Am 11.September wurde aber nicht der Film Wirklichkeit, sondern die schreckliche Wirklichkeit konnte vom Film nicht mehr gebannt werden. So viel Realität ist real kaum zumutbar.

Eine Großmutter wird von Schuldgefühlen geplagt – sie konnte zwei der vier Enkel nicht mit auf die Flucht nehmen, kann kaum mehr schlafen vor lauter Angstbildern. Die Überlebensschuld packt die Entronnenen mit quälenden Fragen: Waru m konnte ich fliehen und die anderen nicht? Darf ich in Sicherheit sein, die anderen nicht? Sich schuldig fühlen. Eine eigentümliche aber bestimmende Reaktion auf ein traumatisches Erlebnis. Das Opfer fragt sich nach seinem eigenen Zutun. Der Übergriff a uf die eigene Integrität macht dem Opfer zu schaffen: es fühlt sich nicht nur verletzt, sondern auch schmutzig und beschämt. Mehr als irritierend sind auch die Gefühle der Dankbarkeit von Betroffenen, die sie gegenüber ihren Peinigern hatten. Von Flugzeug entführungen kennen wir das Phänomen, dass die Entführten warme Gefühle für jede Nicht – Gewalt der Täter entwickelten. Sie identifizieren sich mit dem Angreifer, um die massive Gewaltbedrohung psychisch zu managen. Was nachher zu einem großen Zusammenbruch führt. Die Gefahr besteht, dass sie die Aggression, die dem Täter gehört, gegen sich selbst richten. Selbsttötungsgedanken sind die Folgen. Das ist eine teuflische Dynamik. Die Peiniger lösen bei den wehrlosgemachten Opfern Schuld, Dankbarkeit und Autoaggr ession aus. Die Folgen der Gewalt wirken, wenn der Gefolterte die Tortur überlebt, weit über die eigentliche Zeit der Folter nach und beeinträchtigen oft das gesamte weitere Leben. Die Erinnerung an das Entsetzen bleibt bestehen, ist Tag und Nacht präsent. Das Erlebte und Erlittene nimmt die Gegenwart ein lässt keine andere Vorstellung von der Zukunft zu.

Sarlam Z., Mutter von zwei Kindern sympathisiert mit der verbotenen Oppositionspartei, ist aber nicht besonders aktiv, im Gegensatz zu ihrer Schwester, die als führender Kopf ins Ausland fliehen muß. Sarlam Z. bekommt zu spüren, was Sippenhaftung bedeutet. Nach der Arbeit wird ihr von einer paramilitärischen Gruppe aufgelauert. Geschlagen, die Augen verbunden. Fünf Männer vergewaltigen sie, lassen sie be wusstlos liegen. In der Früh wird die von Passanten gefunden. In den nächsten Wochen erhält Sarlam Z. Drohungen gegen ihre Familie. Sie versteckt sich und flieht unter Mithilfe ihrer Schwester nach Österreich. Alles musste sehr schnell gehen. Sie überlegte fieberhaft, wie sie die Kinder auf der Flucht mitnehmen könne. Das Risiko für die Kinder wäre sehr groß gewesen. Sarlam Z. konnte sich nicht von ihren Kindern verabschieden. Sie ist in verwirrtem und depressivem Zustand als sie in die Therapie kommt; es gelingt ihr kaum, zusammenhängend zu erzählen. „Heilung im eigentlichen Sinn ist nicht möglich“, beschreibt die Psychotherapeutin Barbara Preitler die Therapiesituation. Was geschehen ist, kann nicht rückgängig gemacht werden. Verfolgung, Lager, Folter sol len aber Teil der Vergangenheit werden und nicht mehr „die Gegenwart der Überlebenden vergiften und blockieren.“ Wir können aber begleiten auf dem Weg der Trauer um all das Verlorene“, so Preitler, „und so zumindest den Blick auf die Zukunft im Exilland Ös terreich eröffnen.“

Gülten erscheint sorgfältig geschminkt und in sehr gepflegten, aber grellen Kleidern. Sie erzählt, dass sie Alkohol trinkt, weil sie sonst das Grauen nicht mehr aushalten könne. Der Inhalt und die Form wie sie dies erzählt, stehen im Widerspruch zu ihrem Äußeren. Die ca. 40jährige Frau ist wegen gewerkschaftlicher Tätigkeit verhaftet, gefoltert und vergewaltigt worden. In Österreich ist sie bereits seit einigen Monaten, ihr Asylverfahren scheint aussichtslos zu sein. Seit ein paar Woch en ist sie in medizinischer Behandlung, sie berichtet verstört von Blutabnahmen und den Medikamenten, die sie verschrieben bekam. Als sie ihre Verunsicherung selbst anspricht, fragt sie die Therapeutin, ob es vielleicht daran liegt, dass alle in sie „eindr ingen“ wollen – mit Nadeln, Tabletten und mit Fragen. Sie erscheint zuerst verblüfft – und beginnt schließlich zu lachen. Zum ersten Mal wirkt sie entspannt.

Die Wartelisten von Flüchtlingen, die dringend psychotherapeutische Begleitung brauchen, sind lang. Der Bedarf ist weit größer als das finanzierte Angebot. Viele Flüchtlinge sind schwer traumatisiert, je nach ihrer Herkunftsregion gibt sie die UNO mit 5 bis 30 Prozent an. Ein funktionierendes soziales Netz, stabile verständnisvolle Beziehungen und gesel lschaftliche Anerkennung sind entscheidend für die Bewältigung des Traumas. Hingegen reaktivieren Schubhaft, sachunkundige Gutachter im Asylverfahren oder permanente Abschiebungsgefahr das Erlittene aufs Neue. So als würde man einen Allergiker unter einen blühenden Baum setzen.

Eine junge Frau klagt über Schlafstörungen und Albträume, in denen sie immer wieder von ihrem verstorbenen Angehörigen träumt. Sie erzählt, dass der Leichnam eines verstorbenen Freundes von den Soldaten mitgenommen worden sei, und es daher kein Begräbnis gegeben hat. Die Therapeutin nützt diese Stunde für ein symbolisches Begräbnis. Wie wäre die Beerdingung gewesen, wenn es eine gegeben hätte? Die junge Frau beginnt zu erzählen, wer das Essen gekocht hätte, welche Speisen es gegeben hätte, wer aller gekommen wäre, wo das Grab sich befinden würde. Während sie spricht weint sie sehr viel. Während sie dieses Bild des Begräbnisses entstehen lässt, fallen ihr auch schöne Erinnerungen mit dem Verstorbenen ein, die sie auch erzählt. Am Ende der Sitzung wirkt sie müde und erleichtert. Eine Woche später berichtet sie, dass sie nun endlich schlafen könne und auch nicht mehr vom Verstorbenen träumt. Wichtige Fragen für die Trauerarbeit: War es möglich, der Person vorher auf Wiedersehen zu sagen, ist es möglich, die Leiche des geliebten Menschen zu sehen, zu reinigen und nach den üblichen kulturellen und religiösen Ritualen zu bestatten, oder bleibt der Körper für immer in einem namenlosen Massengrab? Auch Sarlam Z. gewinnt Interesse, sich um ein Leben in Österreich zu kümmern. Sie ringt um Funken von Vertrauen in die Welt: Kein Platz nirgendwo? Oder zumindest ein Platz irgendwo. Die Lebenssituation bleibt schwierig: Ein Asylverfahren läuft, keine Wohnung, keine Arbeitserlaubnis – und die Sorge um ihre im Land verbliebenen zwei Kinder.en zwei Kinder.

Erschienen in:  Die Presse, Spectrum, 2004

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