Lebensgeschichtliche Protokolle aus den Armen- und Altenheimen der 1930er Jahre. Die Dissertation von Maria Jahoda.
Sie ist das Kind eines Webers und einer Fabriksarbeiterin. Unehelich geboren in Brünn. Wie sie elf Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter, der Vater geht weg auf Arbeitssuche. Sie wohnt bei einer Frau, der sie für das Bett zahlen muss. Auf Vermittlung ihrer Bettfrau arbeitet sie einige Jahre in einer Fabrik. Sie verdient nicht viel beim Wolle klauben. Wie sie 19 Jahre alt ist, kündigt ihr die Bettfrau, weil sie den Platz braucht. Das Mädchen findet zuerst einen Job als Hausgehilfin, geht dann nach Wien, wo sie in einer Greislerei arbeitet. Dort bekommt sie außer dem Essen keinen Lohn. Sie lernt einen Wiener Buchdrucker kennen, bekommt mit ihm zwei Kinder, er stirbt wie das zweite drei Wochen alt ist. Damals ist sie 24 Jahre.
All das erzählt sie – jetzt 74 jährig – der Studentin Maria Jahoda, die für ihre Dissertation in Wiener Versorgungshäusern Interviews führt. Es ist das Gespräch mit Frau „F 15“, das die junge Sozialwissenschafterin 1931 in einer von vier Einrichtungen der Wiener Armenversorgung aufzeichnet. Die Arbeit gibt Auskunft über Lebensläufe und Lebensverhältnisse der unteren Klassen in der Zeit von 1850 bis 1930. In den Versorgungshäusern verbrachten Männer und Frauen ihren Lebensabend, wenn sie chronisch krank, pflegebedürftig und mittellos waren. Die nun erstmals in Buchform veröffentlichte Dissertation trägt den Titel „Anamnesen im Versorgungshaus. Ein Beitrag zur Lebenspsychologie“. Maria Jahoda forscht am psychologischen Institut bei Charlotte Bühler, die sich der entwicklungspsychologischen Erkundung der menschlichen Lebensphasen verschrieben hat.
Da blitzt auch erstmals Jahodas besonderer Blick auf: „Nicht beweisen, sondern entdecken, das Unsichtbare sichtbar machen“. Ihre Interviews sind offen, sie bemüht sich um Erzählfluss, dazwischen gibt es Ergänzungsfragen. Die beste Zeit ihres Lebens war als sie jung war, sagt die alte Frau im Versorgungshaus. Die schwerste Zeit wie der Mann gestorben ist. Sie hatte dann nie mehr freie Zeit, nicht gelesen, nicht getanzt, kein Theater. Stress, Druck, Arbeit, Abhängigkeit und Armut prägten den Alltag. Wenn sie noch einmal auf die Welt käme, möchte sie am liebsten allein und ruhig leben.
In den Geschichten der 52 Männer und Frauen spiegeln sich die sozialen Verwerfungen eines Jahrhunderts mit all den lebensweltlichen Verstrickungen wieder. Die hohe Sterblichkeit der Kinder, die miesen Arbeitsverhältnisse ohne soziale Sicherung, die sozial-ständische Ordnung, aber auch das unbändige Ringen um Unabhängigkeit und Lebensfreude der Interviewten. In der Dissertation wird bereits Jahodas Stärke sichtbar. Ihr neugieriger und empirischer Blick auf die konkrete Lebenswelt. Und ihr Interesse für reale Probleme von Menschen, die nicht im Licht stehen. Als Maria Jahoda ihre Dissertation abgibt, ist sie bereits in ein neues Projekt involviert: Einer Studie über Arbeitslose in einem Dorf südlich vor Wien, in Marienthal.
Erschienen: im „Album“ der Tageszeitung „Der Standard“, 19.10.2017