Der kulturalistische Kurzschluss

Das Virus, der Migrant und die Schuldigen. Wir reden über Kultur, um über die Verhältnisse zu schweigen.

„Seit es mir bewusst ist, dass es für immer so bleiben wird, dass die anderen sofort, nachdem sie mich sprechen gehört haben, fragen werden, woher ich komme, denke ich, dass mein Beruf Ausländer sei“, schreibt ironisch Zdenka Becker, seit mehr 30 Jahren in Österreich. Und die Journalistin Münire Inam ergänzt: „Ich bin nicht hauptberuflich Migrantin“.

Denn es heißt Obacht geben. „Der Migrant“ ist nämlich jetzt auch schuld an der eigenen intensivmedizinischen Corona-Erkrankung, wo er in Massen herumliegt und „uns“ die Betten besetzt. So berichtet in der Presse. Auch das Virus hat Migrationshintergrund, sagt der Kanzler. „Sie“ hätten es „uns“ hereingeschleppt. Was so viel bedeutet wie, dass „sie“ – obwohl Wohn- und Staatsbürger – offenbar nicht Teil des „uns“ sind. Und weiters erscheint alles aus ihrem „Migranten-Sein“, aus ihrer quasi verewigten „Kultur“ erklärbar zu sein. Die Kulturalisierung des Integrationsbegriffs ist mittlerweile Staatsdoktrin. Auch die Integrationsministerin findet bei Problemen in der Schule, mangelnden Aufstiegschancen oder Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt immer eine Ursache: das „Migrantische“.

Statushintergrund

Da hat sich ein ziemlicher Ausländerfetischismus entwickelt. „Kultur“ wird als „Natur“ gedacht. Dieser kulturalistische Kurzschluß verschluckt aber die wichtigen Fragen, die in den Konflikten stecken: Berufliche Positionen, Einkommen, Wohnsituation, soziale Rangordnungen, Ohnmacht, Anerkennung. Er spricht über die Anderen immer als Andersartige, macht Zugewanderte fremder, als sie sind, und Hiesige heimischer, als sie es je waren. Oder lässt sich die Anderen mittels romantischer Folklore kulinarisch auf der Zunge zergehen. Alles ist „Kultur“ und „Identität“. Die Debatte ist kulturversessen und verhältnisvergessen. Wir reden zu viel über „Kultur“ und zu wenig über die Verhältnisse. Wir verwandeln Ungleichheit in Differenz und Gesellschaft in Kultur. Ob working class, ob gute berufliche Position, ob Arm oder Reich, ob Bildung, ob Einfluss oder nicht: Der Statushintergrund macht viel aus. Wir reden über „Kultur“ um über die Verhältnisse zu schweigen.

„There was never any lockdown. There was just middle-class people hiding while working-class people brought them things“. So tönt es aus London, wo unter allen Berufen auf den Corona-Sterbetafeln am öftesten „Hilfsarbeiter“ stand. Corona trifft die ökonomisch Ärmsten am Arbeitsmarkt, in Familien, prekäre Ich-AGs oder als chronisch Kranke. Das sind viele Zugewanderte. Die Auswirkungen hängen stark vom Ausbildungsgrad und Einkommen ab. Arbeitnehmer mit Pflichtschulabschluss sind jetzt in Österreich am stärksten von Kurzarbeit und Kündigungen betroffen. Je höher das Einkommen, desto eher findet Arbeit im Home-Office statt. Die Infektionen in Postverteilerzentren und Schlachthöfen, bei Erntehelfern und Paketzustellern waren kein Zufall: Beengtes Wohnen, geringe Einkommen, schlechte und prekäre Jobs kommen da zusammen. Hierzulande müssen 215.500 Kinder in beengten Wohnverhältnissen leben. Der sozio-ökonomische Faktor ist bei Gesundheit, Infektionsrisiko und Lebenserwartung mächtig. Arme Raucher sterben früher als reiche Raucher. Wenn ich mit der Straßenbahn vom ärmsten Wiener Gemeindebezirk, Fünfhaus, in den reichsten -nach Hietzing -fahre, dann liegen dazwischen einige Minuten an Fahrzeit, aber auch sechs Jahre an Lebenserwartung der jeweiligen Wohnbevölkerung. Man kann einen Menschen mit einer feuchten Wohnung genauso töten wie mit einer Axt.

Nobelpreisträger Amartya Sen hat den Zwang zur Einheits-Identität als „pluralen Monokulturalismus“ bezeichnet. Damit weist er auf die neue Form des alten Rassismus hin, deren Anhänger sich auch gerne um das „Identitäre“ scharen. Das meint, dass ganze Bevölkerungsgruppen von einer einzigen Kultur und einer einzigen Identität ausgehen, derer sich alle einzufügen haben. Kultur ist Natur. Sie kann durch Blut, Herkunft oder Religion bestimmt sein. Menschen erwerben Rechte aber durch ihr Menschsein, Bürger durch ihre Zugehörigkeit zur Republik – aber nicht durch die Zugehörigkeit zu einer Religion, Kultur oder „Herkunft“. Wird das umgedreht, schnappt die Kulturalismus-Falle zu. Als was du geboren wurdest, das bist du. Einmal Ausländer immer Ausländer.  Sie fasst deshalb auch den Integrationsbegriff kulturalistisch. Der Zugang zu Wohnungen, die nicht feuchten Substandard darstellen, wird so als kulturelles Recht definiert – und nicht als soziales Grundrecht. Dasselbe bei sozialen Aufstiegschancen, Mindestsicherung oder Mitbestimmung. Mit der Kulturalisierung des Integrationsbegriffs wird Österreich noch stärker als bisher als Abstammungsgemeinschaft statt als Republik definiert.

Das gilt auch für den religiösen Kulturalismus. Glaubende, ob sie zu Gott, Jahwe oder Allah beten, sind immer auch Frauen und Männer, Arme und Reiche, Privilegierte und Benachteiligte, Mächtige und Ohnmächtige. Das ist wichtig, weil es zeigt, dass wir als Menschen mehrere Identitäten mit unserer je eigenen Geschichte, unseres Geschlechts, unserer Schichtzugehörigkeit, unseres Berufes aufweisen. Und Menschen entscheiden können, dass ihre ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit weniger wichtig ist als ihre politische Überzeugung, oder ihre beruflichen Zusammenhänge, oder ihre Rolle als Frau, oder ihre gewählten Freundschaften. Der „plurale Monokulturalismus“ unterscheidet sich übrigens nicht grundlegend vom Programm religiöser Fundamentalisten. Denn beide sind miteinander verfreundete Feinde.

Erschienen in: Wochenzeitung Falter, vom 10.12.2020.

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