Die sozialen Probleme werden größer. Und die schlechte Sozialhilfe kann sie nicht lösen.
„Mein Name ist Sarah, ich bin 33 Jahre alt und wohne in Niederösterreich. Im Alter von ungefähr 19 Jahren brach bei mir eine Autoimmunerkrankung aus. Das bedeutete wochenlange Krankenhausaufenthalte, schwere Therapien, viele Tabletten, Sprays, Spritzen und Infusionen. Sie nahm so heftig ihren Lauf, dass ich körperlich nicht in der Lage bin mich durch eine Erwerbstätigkeit selbst zu erhalten. Selbsterhaltungsunfähiges Kind, nennt man das. Obwohl ich 33 Jahre alt bin.“ Sarah habe ich bei einer Diskussion getroffen. Sie hat mir einen Brief geschrieben. „Schreib darüber“, steht darunter. Ihre Geschichte steht für all die negativen und giftigen Folgen der gekürzten Sozialhilfe. Jetzt im Lockdown ist alles noch viel schwieriger. Corona trifft die ökonomisch Ärmsten am Arbeitsmarkt, in Familien, als prekäre Ich-AGs oder chronisch Kranke. Und viele fallen gerade in das unterste soziale Netz, die sich das nie gedacht hätten. Die Corona-Krise zeigt, wie wichtig jetzt eine gute Mindestsicherung wäre, statt einer schlechten Sozialhilfe, die Menschen in Existenznöten und Notsituationen nicht trägt
Menschen mit Behinderungen können gezwungen werden, ihre Eltern auf finanziellen Unterhalt zu verklagen – auch, wenn sie längst volljährig sind. Wenn sich die Betroffenen weigern, wird die Leistung empfindlich gekürzt. Diese Regelung galt bisher nur in manchen Bundesländern, die neue Sozialhilfe zwingt diese schlechte Praxis jetzt allen auf.
In Ober- und Niederösterreich können wir gerade beobachten, wie die neue Sozialhilfe versagt: nämlich Menschen, die ohnehin wenig haben, krisenfest abzusichern. Oberösterreich und Niederösterreich haben das Sozialhilfegesetz als einzige bereits eingeführt. Das bedeutet geringere Richtsätze für Erwachsene und Kinder, Anrechnung der Wohnbeihilfe oder eine uneinheitliche Vollzugspraxis bei der Berechnung des Wohnaufwandes von Frauen-Notwohnungen. Dies führt dazu, dass Menschen in sozialen Krisen um mehrere hundert Euro monatlich weniger Hilfe haben als in der Mindestsicherung.
Aktuell rechnet Oberösterreich die Wohnbeihilfe auf die Leistungen der Sozialhilfe an, zieht sie also ab. Und die Zuverdienstgrenze wird mit dem Sozialhilfe-Ausführungsgesetz praktisch abgeschafft. Das bedeutet, dass Sozialhilfe-Empfängern, die tageweise etwa im Trödlerladen der Arge für Obdachlose mitarbeiten, das Einkommen zur Gänze vom Amt kassiert wird. In Niederösterreich wurde – entgegen aller Beteuerungen – die Bestimmung im Sozialhilfegesetz nicht umgesetzt, welche eine um bis zu 30% erhöhte Wohnkostenpauschale ermöglicht. Vom 40%igen Wohnanteil wird weiters die Leistung aus der Wohnbauförderung abgezogen, was insgesamt dazu führt, dass die hilfebedürftige Person weniger fürs Leben und weniger fürs Wohnen erhält. Außerdem haben die neuen gestaffelten Kinderrichtsätze zur Folge, dass Eltern mit mehr als einem Kind unter Kürzungen leiden. Weiters werden der bürokratischen Willkür am Amt Tür und Tor geöffnet: es gibt keine drei-Monate-Entscheidungsfristen mehr, und auch schriftliche Bescheide müssen nicht mehr ausgestellt werden.
„Es fühlt sich an, als wolle man meine Familie wegschmeißen“, hat eine Mutter mit humanitärem Bleiberecht in Niederösterreich formuliert. Für sie gibt es überhaupt keine Existenzsicherung, auch keine Krankenversicherung mehr. Und das in Pandemie Zeiten. Unter den Betroffenen finden sich auch viele schwerkranke und nicht arbeitsfähige Personen, die keine Möglichkeit haben, einer Arbeit nachzugehen und auch nicht von Verwandten oder Freunden mitunterstützt zu werden. Zudem wird das Grundsatzgesetz so verstanden, dass die Länder die so wichtigen „Hilfen in besonderen Lebenslagen“ einstellen. Damit fällt jede Unterstützung weg.
Wie konnte es so weit kommen? „Asyl“ wird gesagt, aber gestrichen wird dann bei allen. Auf „die Flüchtlinge“ zeigen die Regierenden, die Bedingungen verschärfen sie aber für alle. Das ist das Geschäft von Trickdieben: Es braucht immer einen, der ablenkt, damit dir der andere die Geldbörse aus der Tasche ziehen kann. Die „Ausländer“ werden ins Spiel gebracht, weil sie sonst die Kürzungen nicht durchsetzen könnten. Keiner alten Frau, keinem Menschen mit Behinderung, keinem Niedriglohnbezieher geht es jetzt besser. Im Gegenteil.
Erwachsene Menschen mit Behinderungen gelten angesichts der neuen Sozialhilfe nun österreichweit ihr Leben lang als Kinder. Sarah: „Ich bin also erwachsen und kann nicht mal frei entscheiden welches Brot ich esse. Oder mit welchem Duschgel ich mich dusche. Kann ich den Schrank in meinem „Kinderzimmer“ erneuern? Ist eine Mundhygiene momentan leistbar? Das sind alles Fragen, die ich als volljähriger Mensch meinen Eltern stellen muss. Ich kann nicht einfach Freunde einladen, wenn ich sie sehen will. Ich habe aber auch nur selten die Mittel, mit ihnen etwas zu unternehmen. Ins Kino zu gehen, Konzerte zu besuchen, ein regelmäßiges Hobby, das Geld kostet – all das ist unleistbarer Luxus. Und doch wäre es ein Ausgleich zu all den Sorgen und Ängsten, die man mit einer Erkrankung durchstehen muss.“
Die alte Normalität wird in der neuen umso mehr sichtbar. Wer vor Corona prekär gearbeitet hatte, konnte in den Wochen danach seinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft kaum noch bestreiten. Betrachtet man also Gruppen, die schon letztes Jahr nicht mehr wussten, wie sie ihr Leben bestreiten sollen, stößt man auf prekäre Verhältnisse aus den Zeiten der Normalität von vorher. Mehr als die Hälfte der Familien mit Kindern (57 Prozent) in der Mindestsicherung haben Einkommen aus Erwerbstätigkeit. Das weist auf working poor und prekäre Arbeit hin. Deswegen dürfen wir soziale Verwerfungen und Armut auch nicht „covidisieren“. Heißt: Was gegen Armut vor Corona geholfen hat, hilft auch jetzt gegen Armut. Eine gute Mindestsicherung ist besser als eine schlechte Sozialhilfe, verfügbare Therapien, leistbares Wohnen oder gute Schulen für alle, helfen jetzt wie davor. Was gegen die Schere zwischen Arm und Reich vor Corona erfolgreich war, ist es auch jetzt. Die soziale Ungleichheit wird in und nach Wirtschaftskrisen in der Regel größer, hat der renommierte britische Sozialwissenschaftler Tony Atkinson anhand von vierzig Wirtschaftskrisen beobachtet. Wie die Kosten der Krise verteilt werden, entscheidet über mehr oder weniger Armut in den nächsten Jahren.
Der Normsturz dient dazu, die die Festigkeit eines Kletterseils zu messen. Fünf Abstürze muss es mindestens aushalten, sonst taugt das Seil nicht zum Schutz. Die sozialen Probleme werden größer. Und die schlechte Sozialhilfe kann sie nicht lösen. Sie würde den Normsturz nicht bestehen. Instrumente der Mindestsicherung sind für Krisen gemacht. Das ist ihre Bewährungsprobe. Wenn ein Regenschirm nicht den Regen abhält, wenn das Kletterseil nicht den Sturz abfängt, wenn der Bretterboden nicht stabil vor dem dunklen Keller schützt – wenn also Sozialhilfe gerade in der Krise nichts taugt, dann hat sie ihre Aufgabe verfehlt. Armutsbetroffene wie Sarah werden oft als „sozial schwach“ bezeichnet. Das ist eine Beleidigung. Sozial schwach sind diejenigen, die den Armen aus der Armut helfen könnten, es aber nicht tun.
Erschienen in: Der Standard, 18.11.2020