Kinder brauchen Hilfe, wenn sie mit ihrem Alltag und mit sich selbst nicht mehr zu Recht kommen.
Eine junge Frau im bunten, wilden Kleid – umringt von grauen Schatten. Melanie hat ein Bild davon gezeichnet, wie es ihr geht. „Das sind Gedanken, die um meinen Kopf herumschwirren und mich zum Nachdenken bringen, z. B. wegen meiner Familie und wegen Corona“, sagt die 13-Jährige Kärntnerin. „Ich habe oft Kopfweh. Und ich habe auch Bauchschmerzen und manchmal wird mir ganz schlecht.“ „Ich bin den ganzen Tag allein in meinem Zimmer“, sagt Paul. „Es ist nicht leicht, mich zu motivieren. Meine Eltern können mir auch nicht helfen, und ich will das auch nicht“ Der 15-Jährige aus Linz möchte eine Lehre als Elektriker machen. Er ist jetzt im letzten Schuljahr. „Aber ich komm nicht mehr mit beim Unterricht. Mir fehlen meine Freunde. Ich halte das Alleinsein nicht mehr aus.“
Kinder und Jugendliche sind massiv unter Druck. Wir merken das am Krisentelefon, in den mobilen Therapien, Jugendnotschlafstellen oder Wohngemeinschaften. Auch die verfügbaren Daten sprechen eine klare Sprache: Einschlafprobleme, Kopfschmerzen, Niedergeschlagenheit und Bauchschmerzen nehmen bei Kindern zu. Depressive Symptome treten jetzt bei etwa 20 Prozent der österreichischen Bevölkerung auf. Vor der Corona-Pandemie lag dieser Wert noch bei vier Prozent. Auch Angstsymptome oder Schlafstörungen sind aktuell auf dem Höchststand von 16 Prozent. Besonders stark davon betroffen sind junge Leute. Verschärft wird die Situation durch beengtes Wohnen und geringes Einkommen zu Hause.
All das ist für jeden Menschen hart. Aber ein gesunder Mensch hält es eine Zeit lang aus. Wer nicht so viel Kraft mehr hat, kommt hier schneller an eine Grenze. Die jungen Leute, die zu unserer Notschlafstelle Juno kommen, sind Überlebenskünstler. Sie kennen Krisen. Sie sind mit Krisen aufgewachsen. Das gibt ihnen jetzt auch eine gewisse Stärke. Aber an den Umständen ändert es nichts. „Wir setzen uns in Runden zusammen und reden miteinander“, erzählt die Jugendarbeiterin von Juno. Über Probleme, Ängste, Beziehungen, über alles Mögliche. „Die Jugendlichen, die jetzt bei uns wohnen, haben niemanden. Keine Familie, keine anderen Bezugspersonen.
Laura, die wir aus der Familienberatung kennen, schildert: „Ich schlafe im Bett und ich frühstücke im Bett. Wir haben nicht viel Platz in der Wohnung. Also sitze ich auch beim Distance-Learning im Bett. Und wenn ich abends Filme schaue oder mich virtuell mit Freundinnen treffe, sitze ich wieder im Bett.“ Der 16-Jährigen fällt es immer schwerer, sich aufzuraffen. „Ich hab das Gefühl, ich kann mich gar nicht mehr bewegen“, sagt sie. Normalerweise helfen soziale Kontakte und das Erleben von Verbundenheit über Krisenzeiten hinweg. Wenn die fehlen, dann entstehen Probleme. Entwicklungsaufgaben in diesem Alter sind ja eigentlich das Hinausgehen in die Welt, an Begegnungen wachsen, körperliche Erfahrungen machen. Das ist so, als würde man ein einjähriges Kind, das gerade voll Eifer gehen lernen will, festbinden.
Die Geschichten von Laura, Melanie und Paul stehen für viele tausend andere, die in der Corona-Krise schwer unter Druck gekommen sind. Kinder brauchen Hilfe, wenn sie mit ihrem Alltag und mit sich selbst nicht mehr zu Recht kommen. Rund 60.000 Kinder und Jugendliche in Österreich erhalten jedoch nicht die für sie notwendigen Therapien. Es gibt zu wenig kostenfreie Therapieplätze oder elendslange Wartezeiten. Die meisten von ihnen konnten keine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen – aus dem Grund, dass ihre Eltern sich diese nicht leisten können, sagt uns die Mental Health in Austrian Teenagers-Studie. Leistbare und verfügbare therapeutische Hilfen sind aber ganz entscheidend für das gute Aufwachsen von Kindern, die gesundheitliche Probleme haben. Es braucht den Lückenschluss von Psychotherapie, Physio- und Ergotherapie, Ausbau der frühen Hilfen für Eltern & Baby und Unterstützung für Kinder mit chronischen Erkrankungen. All das steht auch im Regierungsprogramm. 190.000 Kinder zählt man hierzulande mit chronischen Erkrankungen wie Asthma, Allergien, Diabetes, Rheuma oder Stoffwechselstörungen. Lisa erzählt oft von „Dieben im Körper, die herumschießen“. Lisa sieht aus wie ein ganz normales kleines Mädchen. Daher wird sie häufig als wehleidig abgestempelt. Aber sie ist nicht wehleidig, sie lebt mit einer sehr schmerzhaften chronischen Erkrankung. Auch da steht etwas geduldig im Regierungsprogramm, was Lisa unterstützen würde: School Nurses. Die gibt es in anderen Ländern wie etwa in Großbritannien oder Frankreich schon lange. In Deutschland hat man sie vor drei Jahren in Hessen und Brandenburg in einem Pilotprojekt eingeführt. Mit Erfolg. Hierzulande findet sich das alles weiter geduldig zwischen den Seiten des Regierungsprogramms. Auf was wird gewartet? Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, diese Vorhaben auch umzusetzen.
Erschienen in: Die Presse, 17.03.2021. „Ich halte das nicht mehr aus“