Es untergräbt die Demokratie, wenn die vielen leisen Stimmen ungehört bleiben, die ganz gewöhnlichen Existenzen vernachlässigt und die scheinbar banalen Lebensläufe missachtet werden.
„Nicht wahrgenommen werden“ bedeutet auch „ausgeschlossen sein“. Der Demokratietheoretiker Pierre Rosanvallon argumentiert, dass heute die Sehnsucht nach einer gerechten Gesellschaft verbunden ist mit dem Wunsch nach Anerkennung. Und genau hier müsse eine Erneuerung der Demokratie ansetzen: bei jenen, deren Leben im Dunkeln bleibt, die nicht repräsentiert werden, die nicht sichtbar sind. In Paris gründete Rosanvallon ein „Parlament der Unsichtbaren“, das dazu dient, all die Geschichten und Lebensbiographien von Menschen zu erzählen, die sonst im Dunkeln geblieben wären: von Jugendlichen, die es schwer haben, von Arbeiterinnen im Niedriglohnsektor, vom alten Mann am Land.
Schönheit der Verfassung
„Stellen Sie sich vor, es träte eine neue verfassungsgebende Versammlung zusammen, um über die zukünftige Gestaltung unserer Demokratie zu beraten“. So begann die Einladung der Denk- & Kunstwerkstatt GLOBART zu einem Gedankenexperiment. „Was wäre Ihnen wichtig, welche Fragen müssten aufgeworfen werden?“ Ich antwortete: „Die Schönheit der Verfassung zu würdigen, heißt, sie um soziale Menschenrechte zu vervollständigen“. Und: „Wir müssen achten, wie der Alltag ökonomisch Schwächerer und ihrer Interessen repräsentiert ist in Entscheidungsfindungen“. Zu ersterem könnte es im 100-Jahr-Jubiläum unserer Verfassung heißen: „Jeder Mensch hat das Recht auf Mindestversorgung, die ein menschenwürdiges Dasein, insbesondere materielle Sicherheit, soziale und gesellschaftliche Teilhabe gewährleistet.“ Das würde weitestgehend den Diskussionen im Österreich-Konvent sowie der Grundrechtscharta der Europäischen Union folgen. Auch im aktuellen Regierungsprogramm steht, dass der Grundrechtekatalog erweitert werden soll. Die Armutskonferenz hat dazu sogar einen eigenen Gesetzesentwurf vorgelegt.
Tiefe soziale Kluft in der Demokratie
Die andere Frage betrifft das Ringen um Partizipation und Mitbestimmung aller. Für die Qualität einer Demokratie ist wichtig, dass sich Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen in ähnlichem Ausmaß beteiligen. Ist Österreich auf dem Weg in die Zweidrittel-Demokratie? „Mit meiner Stimme kann ich bei Wahlen die Zukunft Österreichs mitbestimmen“ – dem können 50 Prozent des stärksten ökonomischen Drittels zustimmen, aber nur 28 Prozent des schwächsten. Das ärmste Drittel der Bevölkerung geht zu 41% bei Wahlen in Österreich nicht hin, beim reichsten Drittel sind es nur 17%. Das heißt: nur die Hälfte des ärmsten Drittels geht wählen, aber 80% des reichsten. Beim untersten Drittel kommen noch alle dazu, die gar nicht wählen dürfen, hier aber ihren Lebensmittelpunkt haben, geboren sind, hier arbeiten. Die meisten befinden sich auch da im untersten Drittel der Bevölkerung, beschäftigt am Bau, in der Reinigung oder im Handel. Im Parlament sind also die Interessen des oberen und mittleren Drittels vertreten, die des untersten Drittels nicht. Die Gesetze werden deshalb auch für das oberste und für das mittlere Drittel gemacht, das untere Drittel wird übersehen. Politische Entscheidungen entsprechen allen voran den Meinungen der einkommensstärkeren Gruppen. Umfassende Studien des Max Planck Instituts und der Bertelsmann Stiftung zeigen, dass die Entscheidungen des Bundestages seit den 1980er-Jahren systematisch zugunsten oberer Berufs- und Einkommensgruppen verzerrt sind. Wer hat am wenigsten Vertrauen in die Demokratie? Die Menschen im ärmsten Drittel vertrauen am wenigsten, sagt uns der aktuelle Demokratie Monitor. Die Mehrzahl der Menschen im ökonomisch schwächsten Drittel hat den Eindruck, ihre Stimme zählt nicht. Ein Teufelskreis. Wir haben eine tiefe soziale Kluft in der Demokratie.
Parlament der Unsichtbaren: Stimmen hör- und sichtbar machen
Für eine bessere Bürgerbeteiligung müssen mit neuen Partizipationsmodellen besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen eingebunden werden. Da braucht es Instrumente und Verfahren, um diese Expertise auch in die politischen Entscheidungsstrukturen einfließen zu lassen: im Verwaltungsrat des AMS oder in Beratungsgremien für Minister oder in Strategieforen der Gesundheitsbehörden oder in Programmen der Gemeinden. Sie können Einblicke und Lösungen erbringen, an die vorher nicht gedacht wurde. Sie beteiligen Bürgerinnen und Bürger aller Schichten, Einkommen und Herkunft an entscheidenden Fragen des Gemeinwesens: Menschen mit Behinderungen, Armutsbetroffene, Erwerbslose, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Eine „Sozialverträglichkeitsprüfung“ gesetzlicher Maßnahmen sollte genauso bedacht werden wie Modelle eines „Health Impact Assessment“ wie sie Neuseeland praktiziert. Und es würde gerade jetzt in Coronazeiten nicht schaden, den im Regierungsprogramm vermerkten „Unterausschuss Armutsbekämpfung“ im Parlament einzusetzen. Dort könnten die Stimmen „von unten“ hör- und sichtbar werden. Ein „Parlament der Unsichtbaren“.
„Die Autobahn ist wieder belebt, heute. Und jeder weiß, wohin sie führt. Ich sitze hier unten im Licht des Lagerfeuers. Und warte auf den Geist von Tom Joad“. Das sind die ersten Strophen in einem Song von Bruce Springsteen. Der Sänger greift die Geschichte von Tom Joad auf. Tom Joad ist der Hauptcharakter in John Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ über die große Depression und Arbeitslosigkeit in den USA der Zwischenkriegszeit. Ein gut dotierter öffentlicher Fonds förderte damals Schriftsteller, Singer-Songwriter, Filmemacher und Fotografen darin, die leisen Stimmen, den gewöhnlichen Alltag und die missachteten Existenzen in den Blick zu bekommen. Sie erzählten Geschichten, von denen keiner erzählt. Sie machten den Alltag derer sichtbar, die nicht im Licht stehen. Sie verstärkten die Stimmen, die gewöhnlich überhört werden.
Erschienen in: Die Furche, „Die Unsichtbaren“, 28.10.2020