Stellt man die Gesellschaft als eine Linie dar, so stehen am einen Ende die Ärmeren, am anderen die Reichsten. Wenn man nun fragt, auf welcher sozialen Position dieser Linie sich die Reicheren einschätzen würden, dann zeigen diese auf die Mitte. Fragt man die Ärmeren, wo sie sich selbst sehen, ordnen sie sich – mit besserer Selbsteinschätzung – ebenfalls Richtung Mitte. Das ist der Grund, warum sich die Figur der Mitte so gut eignet, die wahren Macht- und Ungleichheitsverhältnisse zu verschleiern.
Der britische Premierminister David Cameron stufte sich in einer Rede in Manchester als »middle class« ein, obwohl er ein geschätztes Vermögen von 30 Millionen Pfund sein Eigen nennt, das noble Eliteinternat Eton besuchte und in Oxford studiert hat. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis und ihre Familie mit einem Vermögen von weit über einer halben Milliarde Euro sagen: »Wir sind absoluter Mittelstand.« Der ehemalige österreichische Wirtschaftsminister Martin Bartenstein, vermögend und Besitzer einiger Pharmafirmen, sieht sich selbstverständlich auch als Teil der »Mittelschicht«.
Je reicher und privilegierter der eigene Status, desto stärker wird er unterschätzt. Der Prozentsatz der Haushalte, die sich in das Nettovermögensdezil einordnen, in dem sie sich tatsächlich befinden, sinkt stark mit zunehmendem Nettovermögen. So ordnen sich 29% der Befragten, die in einem Haushalt im untersten Nettovermögensdezil leben, auch in diesem untersten Dezil ein. Bei den obersten vier Dezilen der vermögendsten Haushalte sind dies hingegen jeweils nur weniger als 10%, im 9. und 10. Dezil sind es sogar weniger als 1%. Dies ergeben die Vermögensdaten der Österreichischen Nationalbank . Das heißt: 99% der Reichsten schätzen ihren eigenen Status völlig falsch ein und zählen sich zur gesellschaftlichen Mitte.
Auf die Frage, ob man im eigenen Land aufsteigen könne, also ob unsere Gesellschaft sozial durchlässig ist, antworten laut dem Allensbacher Institut in Deutschland 85% der Eliten, jedeR könne aufsteigen (Köcher 2008). Der oder die deutsche DurchschnittsbürgerIn ist mit 63% etwas skeptischer eingestellt. Häufig sind es also gerade diejenigen, die aufgrund des Zufalls der Geburt ihren Reichtum erworben haben, die den Herkunftsfaktor kleinreden.
Wer oder was die Mitte ist, ist gesellschaftlich umstritten – auch weisen die unterschiedlichen Verwendungen des »Mitte«-Begriffes auf unterschiedliche soziale Lagen hin: So meinen etwa die Begriffe »Mittelstand« und »Mittelschicht« nicht dieselbe soziale Gruppe: Mittelständische Unternehmen können sich nach den Kriterien der EU-Kommission in Österreich nur die obersten 3% aller Unternehmen nennen. Wenn mehr als 95% der Unternehmen also nicht-mittelständische Unternehmen, sondern weit kleinere Betriebe sind, hat der Begriff »Mittelstand« mit der gesellschaftlichen Mitte nichts mehr zu tun. Während der »Mittelstand« historisch die kleine Gruppe des BürgerInnentums zwischen der Elite und der breiten Masse aus den unteren Ständen bezeichnete, wird der Begriff heute fast beliebig verwendet. In Österreich besitzt von den unteren 80% der Haushalte nur ein kleiner Teil Vermögenswerte in Unternehmensbeteiligungen. Dieser Anteil steigt bei den vermögendsten 15% stark an und erreicht über zwei Drittel bei den reichsten 5%. Wenn vom »Mittelstand« gesprochen wird, so sind damit also die reichsten 5% der Haushalte gemeint.
Die »Mittelschicht« wird demgegenüber meist durch ihre Position in der Mitte der Einkommens- und in der Vermögensverteilung definiert. Die konkrete Abgrenzung der Mittelschicht ist jedoch häufig eine Sache von politischen Einstellungen. So ist die Mittelschicht meist dort, wo die Meinungseliten sie haben wollen. Am liebsten bei einem Monatseinkommen von 4.000 Euro. Das ist das in Parlamentsreden und in ChefredakteurInnen-Kommentaren am häufigsten genannte Durchschnittseinkommen. Ein Blick auf die österreichische Lohnsteuerstatistik zeigt, dass die Mittelschicht von den Meinungseliten jedoch tendenziell zu hoch geschätzt wird: Der Medianlohn von Angestellten beträgt 1.848 Euro und der von ArbeiterInnen 1.644 Euro brutto. Nimmt man das Haushaltseinkommen, dann befindet sich der Median bei 1.781 Euro netto.
Der Median ist eine gute Maßzahl für die tatsächliche Mitte: Die Anzahl der Personen mit einem höheren Einkommen als dem Medianeinkommen ist beim Median gleich groß wie die Anzahl der Menschen mit einem niedrigeren Einkommen. Wenn KommentatorInnen also von der Mittelschicht mit 3.500 oder 4.000 Euro Einkommen schreiben, dann sprechen sie von weniger als 10% aller EinkommensbezieherInnen. Das soll die Mittelschicht sein? Nimmt man die Verteilung von Vermögen hinzu, dann löst sich diese so genannte Mittelschicht überhaupt in Luft auf. Die Konzentration ganz oben ist so hoch, dass die Mitte davon fast nichts mehr hat. Fast das gesamte Vermögen ist, laut den Daten der österreichischen Nationalbank, in den Händen der obersten 10%.
Mittlere und untere Einkommen wurden in den letzten Jahrzehnten immer stärker durch Massensteuern und den Faktor Arbeit belastet , während die obersten 10% entlastet wurden. Sparpakete streichen soziale Leistungen, die gerade untere Einkommen, aber auch die Mitte unterstützen. Von der ökonomischen Entwicklung haben im letzten Jahrzehnt besonders die obersten 10% profitiert, die untersten Einkommen haben verloren. Die Mitte wurde unter Abstiegsdruck gesetzt (OECD 2014). Einzig dort, wo ausgebaute sozialstaatliche Instrumente vorhanden waren, entwickelten sich zumindest die Haushaltseinkommen stabiler.
Gleichzeitig hat sich ein Diskurs entwickelt, der viel Energie in die Verachtung der «Unterschicht» steckt – mit dem praktischen Effekt von den Reichtumsprivilegien ganz oben abzusehen. Die Reichsten rechnen sich arm, während die Armen reichgerechnet werden.
Aus: Mythen des Reichtums. Warum Ungleichheit unsere Gesellschaft gefährdet, 2015.
Hradil, Stefan/Schmidt, Holger (2007): Angst und Chancen. Zur Lage der gesellschaftlichen Mitte aus soziologischer Sicht. In: Herbert Quandt-Stiftung (Hrsg.): Zwischen Erosion und Erneuerung. Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland. Ein Lagebericht, Frankfurt, 189-202.
Köcher, Renate (2008): Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste. In: Volker Kauder, Ole von Beust (Hrsg.): Chancen für alle. Die Perspektive der Aufstiegsgesellschaft, Freiburg, 36-44.
OECD (2014): Society at a glance, Paris.